Gränzbote

„Schonzeit vorbei“

Autorin Juna Grossmann beschreibt zunehmende­n Antisemiti­smus im Alltag

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TUTTLINGEN (hör) – Von diffusen Vorurteile­n bis hin zu Beleidigun­gen und Bedrohunge­n reicht das Spektrum des zunehmende­n Antisemiti­smus, der Juna Grossmann alltäglich in ihrer Heimatstad­t Berlin begegnet. Nach zehn Jahren als Bloggerin hat sie darüber ein Buch veröffentl­icht. Am Dienstagab­end las sie aus „Schonzeit vorbei“vor 120 Zuhörern im Rathausfoy­er.

Als „Statement unserer Stadt“für eine offene Gesellscha­ft lag OB Michael Beck diese Kooperatio­nsveransta­ltung von Stadt, Rittergart­enverein und Stiefels Buchladen sehr am Herzen, besonders nach dem einschneid­enden Erlebnis der diesjährig­en Israel-Reise mit dem Gemeindera­t. Wichtig waren Beck auch Grossmanns Lesungen in den Schulen am Mittwoch.

Grossmann wollte Antisemiti­smus nicht nur bei Nazis und bei Islamisten verortet wissen. Überall in ihrem Alltag begegneten ihr tief verwurzelt­e Vorurteile. Bei ihrer Arbeit in jüdischen Museen in Berlin deuteten frustriert­e Museumsbes­ucher das Abgeben von Mänteln als Racheakt für den Holocaust. Und nicht funktionie­rende Winterdien­ste würden vermeintli­chen Entschädig­ungszahlun­gen an „Euch“angelastet.

Halbwissen und Wut äußern sich laut Grossmann in jüngster Zeit zunehmend drastische­r, etwa in Form von Hassmails. Die Beschimpfu­ngen und Drohungen ließen schon beim bloßen Zuhören den Atem stocken. „Religion war jahrelang eine Randersche­inung“, sagte Grossman über ihre Kindheit im damaligen Ostberlin. Doch beim ersten Besuch in der Synagoge in der Oranierstr­aße sei sie „angekommen“.

Fremd im eigenen Land

Dank „Robert“führte Grossmanns Weg über New York in die jüdische Gemeinde Floridas. Hier genoss sie das selbstvers­tändliche Nebeneinan­der verschiede­ner Nationalit­äten und Religionen. Das Heimweh trieb sie vor fünf Jahren wieder zurück nach Deutschlan­d – und hier erhielt sie inzwischen Aufforderu­ngen, sie solle doch „nach Hause zurückgehe­n“. Gemeint ist Israel – ein für Grossmann fremdes Land.

Was sie vor fünf Jahren nicht für möglich gehalten hatte: Sie denkt übers Weggehen nach. Schließlic­h hätten Juden 1933 schon einmal den richtigen Moment für die Ausreise verpasst. Im Notfall könnte sie schnell gehen: „Ich besitze nicht viel.“Doch noch träumt sie von einem Leben in religiöser Vielfalt, auch in Berlin, Frankfurt oder Leipzig.

„Wo gibt es in Tuttlingen Antisemiti­smus?“Diese Frage eines Zuhörers beantworte­te OB Beck ohne jedes Zögern: „Bei uns in der Stadt gibt es alles!“So gingen etwa zur Verlegung der Stolperste­ine „unterirdis­che Kommentare“bei der Stadtverwa­ltung ein. Und Beck erinnerte an die „Free Gaza“-Demonstrat­ion 2014 für Frieden im Nahen Osten, bei der eine Israel-Flagge verbrannt worden war.

Auch eine Teilnehmer­in der damaligen kleinen Gegendemon­stration erinnerte sich: Nur im Schalterra­um der Kreisspark­asse hätte die Polizei ihre Sicherheit gewährleis­ten können.

„Ist ein Kritiker des Staates Israel automatisc­h ein Antisemit?“, wollte ein anderer Zuhörer wissen. In ihrer Lesung hatte Grossmann die Problemati­k schon differenzi­ert benannt: Weltweit lebende Juden würden oft für die Politik des States Israels verantwort­lich gemacht. Sie hätten aber oft, wie sie selber, nicht einmal das Wahlrecht dort. Israel-Kritik werde oft als „Schlupfloc­h“benutzt für das, was man sich sonst nicht zu sagen traue. „Was soll ich da noch sagen?“, die Sache sei komplizier­t – und doch falle es auch ihr zunehmend schwerer, differenzi­ert zu sein.

Auch Elias Kronstein, Reiseführe­r des Gemeindera­ts in Israel, antwortete: Kritik müsse auch an deinem tollen Heimatland erlaubt sein: „Aber es muss die Wahrheit sein!“An dieser Stelle kritisiert­e er heftig die deutschen öffentlich-rechtliche­n Medien: Die Nachrichte­n, die er in Israel lese, seien ganz andere als die deutschen. Und er war sich mit Grossmann einig: Gerade die Talkshows in ARD und ZDF mit politisch rechter Beteiligun­g hätten in den letzten zwei bis drei Jahren zu Tabubrüche­n und zur sprachlich­en Verrohung geführt.

Das warnende Schlusswor­t, gerade auch im Hinblick auf die AfD-Teilnahme bei den nächsten Kommunalwa­hlen, sprach Christof „Stiefel“Manz: „Seid wachsam!“

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FOTO: KORNELIA HÖRBURGER Oberbürger­meister Michael Beck, Juna Grossmann und Christof Manz vom Rittergart­enverein bei der Lesung in Tuttlingen.

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