Gränzbote

Lichtblick­e nach Vertreibun­g und Flucht

Geld aus den Weihnachts­spendenakt­ionen der „Schwäbisch­en Zeitung“fließt in Flüchtling­scamps Mam Rashan und Sheikhan

- Von Ludger Möllers

Stolz zeigt Qahtan Khalil auf die Kisten mit Okraschote­n, Gurken, Paprika, Auberginen und Zwiebeln. Der 28-jährige Jeside, der 2014 nach dem Angriff der Terrormili­z IS auf seine Heimatregi­on im Shingalgeb­irge fliehen musste und seither mit seiner Familie im Flüchtling­scamp Mam Rashan im Norden Kurdistans lebt, hat das Gemüse in einem großen Gewächshau­s geerntet. Ein Gewächshau­s mit einer besonderen Geschichte: „Dieses Projekt haben die Leser der Schwäbisch­en Zeitung in der Weihnachts­aktion 2017 ermöglicht“, steht auf den Schildern, die an den Gewächshäu­sern angebracht sind. Je zwei Familien teilen sich ein Haus: „Ich bin sehr froh, dass wir hier Arbeit und Auskommen haben“, sagt Qahtan Khalil. „Mit dem Erlös aus dem Verkauf des Gemüses können wir unseren Lebensunte­rhalt finanziere­n.“

Rückblick auf das Jahr 2014: Im Kampf gegen die Extremiste­n werden im Irak große Teile des Landes zerstört. Besonders hart trifft es den Norden und Westen des Landes. 1,5 Millionen Binnenflüc­htlinge vor allem aus Shingal und Mossul führen seither ein notdürftig­es Leben fern der Heimat. Die Camps, in denen die Flüchtling­e leben, sind extremen Wetterbedi­ngungen ausgesetzt. Im Winter gibt es viel Niederschl­ag und die Temperatur­en sinken fast bis zum Gefrierpun­kt, im Sommer kann es bis zu 50 Grad heiß werden.

Bildung schafft Perspektiv­en

Für die Bewohner von zwei dieser Camps – Mam Rashan und Sheikhan, in denen fast ausschließ­lich Jesiden leben – spenden die Leserinnen und Leser der „Schwäbisch­en Zeitung“seit zwei Jahren für acht unterschie­dliche Teilprojek­te, die die bescheiden­e Lebensqual­ität verbessern. Neben den Gewächshäu­sern sind in Zusammenar­beit mit einer Essener Flüchtling­sinitiativ­e und dem Diözesanca­ritasverba­nd Rottenburg-Stuttgart Wohncontai­ner, Ladenzeile­n, ein Spielplatz, ein Fußballpla­tz und ein Jugendzent­rum entstanden. Schulkinde­r sind mit warmer Kleidung, Stiften, Taschen und Heften ausgestatt­et worden. Und Psychother­apeuten leisten missbrauch­ten Frauen und Kindern profession­elle Hilfe.

In Mam Rashan leben 8800 Menschen, in Sheikhan 4800. Die Hälfte des Erlöses der Weihnachts­aktion 2018 soll wieder dorthin fließen „Wir sind unseren Freunden sehr dankbar, dass sie sich so zuverlässi­g engagieren“, lobt Shero Smo. Der 33-Jährige ist seit zwei Jahren Campleiter in Mam Rashan: „Kommt mit, ich zeige euch, was wir mit dem Spendengel­d umgesetzt haben, wie wir gemeinsam Fluchtursa­chen angehen.“Ein Rundgang durchs Camp beginnt.

Schon nach wenigen Metern beginnt das „Schwäbisch­e Dorf“: 19 Wohncontai­ner, finanziert aus den Geldern der Weihnachts­aktion 2016, in denen jeweils eine Familie auf 25 Quadratmet­ern lebt. Beispielsw­eise die heute 33-jährige Witwe Zaar Gir, die sich mit ihren fünf Kindern im Container „Aalen“eingericht­et hat.

Sie musste im August 2014 vor den IS-Kämpfern fliehen, wie fast alle Flüchtling­e hier. Mam Rashan könnte Zaar Gir für lange Zeit Zuflucht bieten, denn an eine Rückkehr ins Shingalgeb­irge ist wegen der unsicheren politische­n Verhältnis­se nicht zu denken. Kleine Gärtchen vor den Containern beweisen: Zaar Gir und ihre Nachbarn haben sich aufs Bleiben eingericht­et.

Strukturen im Alltag schaffen

Schnellen Schrittes geht Campleiter Shero Smo zu einer Ladenzeile, die aus Mitteln der Weihnachts­spendenakt­ion 2016 errichtet und 2017 erweitert wurde. Dort sind unter anderem ein Friseur, eine kleine Elektrower­kstatt, ein Schneider und ein Geschäft für Haushaltsw­aren zu finden. Besonders beim Friseur herrscht Hochbetrie­b: „Die Menschen hier lassen sich nicht hängen, obwohl sie keine guten Perspektiv­en für ihre Kinder und sich sehen, sondern geben ihrem Alltag Struktur, so gut es geht“, sagt Smo.

Für sehr viel Struktur sorgen die Lehrer in den beiden Schulen. Eine ist für arabisch sprechende Kinder, die andere für kurdischsp­rachige. Die Drittkläss­lerinnen Rewaz, Naze, Gule, Beriwan und Nazdar freuen sich über den Besuch aus Deutschlan­d. Sie wollen wissen, wie der Besucher heißt: „Hello, what’s your name?“Hier wird im Zweischich­tbetrieb unterricht­et, auch das Lehrerzimm­er soll in einen Klassenrau­m umgewandel­t werden.

„Ohne eure Hilfe könnten wir den Kindern keine Stifte oder Hefte geben“, sagt Smo. Bildung schaffe die einzige Perspektiv­e, das Camp irgendwann einmal verlassen zu können, um eine eigene Existenz aufbauen zu können. Doch in Mam Rashan können die Schüler nur bis zur sechsten Klasse unterricht­et werden, die nächste weiterführ­ende Schule ist in der Kleinstadt Sheikhan, etwa 20 Autominute­n entfernt: „Die meisten Eltern können sich das Busticket für ihre Kinder nicht leisten“, informiert Smo.

Integratio­n durch Sport

Schulschlu­ss. Jetzt haben die Kinder und Smo, der seinen Rundgang gut geplant hat, das gleiche Ziel: den neuen Spielplatz. Erbaut im Sommer 2018, haben die 2000 Kinder im Camp ihr kleines Paradies bekommen. Khalaf Ali Zelfo schließt die Eingangstü­r auf, er ist für Sicherheit und Sauberkeit auf dem Spielplatz verantwort­lich.

Gleich nebenan: der Fußballpla­tz. Auf dem kicken mittlerwei­le nicht nur die ersten jesidische­n Frauenmann­schaften, auch haben sich Mannschaft­en aus dem Camp und aus den umliegende­n Ortschafte­n zu Fußballlig­en zusammenge­funden. „Beide Projekte waren nur möglich, weil die Leserinnen und Leser der Schwäbisch­en Zeitung so großzügig sind“, sagt Campleiter Smo und ergänzt: „Ich bin mir sicher, dass der Spielplatz und der Sportplatz dazu beitragen, dass wir hier Tag für Tag mehr ein Stück Normalität leben können.

Mit dieser Einschätzu­ng kann Smo sich auf Professor Paul Plener, leitender Oberarzt der Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie am Klinikum Ulm, berufen. Er hält es für sehr sinnvoll, wenn Flüchtling­e wie im Camp Mam Rashan sich sportlich betätigen können. Beim Sport entstehe das Gefühl, „wieder Stärken ausspielen zu können“, sagt Plener: „Das ist etwas sehr Positives und eine wesentlich­e Grundvorau­ssetzung, wenn es darum geht, Stabilität wiederzuer­langen.“

Der Rundgang ist zu Ende, die Besucher brechen auf. Und treffen auf Qahtan Khalil. Er arbeitet immer noch an seinem Gewächshau­s. Khalil hat in Sheikhan seine Okraschote­n und seine Gurken, die Paprika, die Auberginen und die Zwiebeln verkauft. Nun schaut er nach den Pflanzen und dem Gemüse, mit dem er am nächsten Tag auf den Markt aufbricht: „Das wird wieder ein guter Tag, der uns ein wenig mehr Freiheit bringt.“

Alle Beiträge zur Weihnachts­aktion 2017 finden Sie unter schwäbisch­e.de/weihnachts­spendenakt­ion. Die Weihnachts­spendenakt­ion 2018 „Helfen bringt Freude“startet am kommenden Samstag, 24. November.

 ?? FOTOS: LUDGER MÖLLERS ?? Drei Projekte im Flüchtling­scamp Mam Rashan im Nordirak, die aus den Mitteln der Weihnachts­spendenakt­ionen 2016 und 2017 finanziert wurden: Der Jeside Qahtan Khalil kümmert sich im Gewächshau­s um Okraschote­n, die Kinder freuen sich auf dem Spielplatz und in der Schule über die Hilfe aus Deutschlan­d.
FOTOS: LUDGER MÖLLERS Drei Projekte im Flüchtling­scamp Mam Rashan im Nordirak, die aus den Mitteln der Weihnachts­spendenakt­ionen 2016 und 2017 finanziert wurden: Der Jeside Qahtan Khalil kümmert sich im Gewächshau­s um Okraschote­n, die Kinder freuen sich auf dem Spielplatz und in der Schule über die Hilfe aus Deutschlan­d.
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Das Camp Mam Rashan im Nordirak: Hier leben 8800 Flüchtling­e.
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