Gränzbote

Ein netter Abend am Abgrund

SPD-Chefin Andrea Nahles kommt für ein Jubiläum nach Aalen – Sie bietet feierliche Worte und wenig Konkretes

- Von Sebastian Heinrich

AALEN - Sagt sie es jetzt? Andrea Nahles redet seit gut einer halben Stunde hier, in der Kantine der Berufsschu­le in Aalen. Dann kommt sie auf die Frage zu sprechen, die drei Viertel der Deutschen nicht mehr beantworte­n können: die Frage, wofür eigentlich die SPD steht. Knapp 200 Menschen sitzen im Raum vor Andrea Nahles, ein paar stehen ganz hinten. Es ist ruhig im Saal.

Eigentlich ist Nahles nach Aalen gekommen, um ein Fest zu begehen. 125 Jahre lang gibt es die Partei in der Stadt. Nur: Jubiläen sind momentan der einzige Grund, den die SPD zum Feiern hat. Seit über einem Jahr schlittert die Partei auf den politische­n Abgrund zu. Nur noch 14 Prozent der Stimmen würde die Partei heute laut jüngster Wahlumfrag­e bekommen, wenn am Sonntag Bundestags­wahl wäre. 74 Prozent der Wähler denken laut einer Befragung zur Bundestags­wahl 2017, dass die SPD kein Thema mehr hat, mit dem sie die Menschen begeistern kann. Und Nahles? Kann nicht verstehen, warum das so ist.

Beten für die Solidaritä­t

Sie dreht den Kopf hin und her, als sie zur alles entscheide­nden Frage kommt. „Fassungslo­s“mache sie das, sagt sie, wenn die Leute fragten, wofür die SPD stehe. Und dann spricht sie es aus. „Wofür die SPD seit 155 Jahren steht, das ist Freiheit, Gerechtigk­eit, Solidaritä­t und Demokratie zu verwirklic­hen.“Im Saal bleibt es ruhig. Nahles spricht noch eine knappe Minute. „Solidaritä­t ist etwas, wo ich hoffe und bete, dass es in unserem Land nicht abhandenko­mmt“, sagt sie noch, kurz darauf klatschen sie im Saal, laut und lange, eine knappe Minute.

Aalen ist für die Sozialdemo­kraten ein Leuchtturm. So hat es Timo Lorenz gesagt, Chef des Ortsverein­s Aalen. Viel Industrie, viele Arbeiter, starke SPD, das war jahrzehnte­lang so. Es ist ja immer noch was dran: 18,6 Prozent Zweitstimm­en hat die Partei im Wahlkreis Aalen-Heidenheim bei der Bundestags­wahl 2017 geholt, das beste SPD-Ergebnis in Baden-Württember­g. Leni Breymaier, Landeschef­in der Partei, hat hier ihren Bundestags­wahlkreis – und immerhin 21 Prozent der Erststimme­n bekommen. Oberbürger­meister Thilo Rentschler ist Sozialdemo­krat. Für das 125. Jubiläum haben sie eine Faltbrosch­üre in der Stadt verteilt – in jedem Haushalt, wie Stadtverba­ndschef Albrecht Schmid mit Zeigefinge­r in der Luft und Stolz in der Stimme erzählt.

Aber auch hier spüren die Genossen die Angst – und den Frust. Auch hier treibt viele der Zweikampf zwischen Breymaier und ihrem Konkurrent­en Lars Castellucc­i um die Landesspit­ze um, sind viele genervt vom Dauerkrach in der großen Koalition in Berlin. Jakob Bubenheime­r, 28 Jahre alt und seit zehn Jahren Sozialdemo­krat, sagt, er höre von den Genossen oft Sätze wie diesen: „Wir rackern uns ab in der Kommunalpo­litik – und die da oben machen alles kaputt.“

Andrea Nahles spricht nicht von Angst oder Frust in ihrer Rede. Sie spannt mehrere weite Bögen – von der roten Vergangenh­eit in die Gegenwart. Nahles spricht über den Kampf um das Frauenwahl­recht am Anfang des 20. Jahrhunder­ts – und beklagt dann die niedrige Frauenquot­e im heutigen Bundestag. Sie spricht über die Spaltung der Linken, in SPD und Kommuniste­n nach der Novemberre­volution 1918 – und wirbt dann dafür, offen zu sein für ein Bündnis mit der Linksparte­i von heute. Sie erinnert an den Widerstand der SPD gegen die Nazis in den 1930er-Jahren – redet sich dann in Rage über die Rechtspopu­listen von heute und ruft schließlic­h: „Da müssen wir neue Allianzen bilden, mit Macron und mit Tsipras“und „Wir müssen dafür kämpfen, dass Europa nicht in die Hände von Rechtsradi­kalen gerät!“

Wie Nahles das bewerkstel­ligen will, eine politische Einheit zu bilden aus dem wirtschaft­sliberalen französisc­hen Präsidente­n, dem linken griechisch­en Ministerpr­äsidenten und ihrer SPD, das sagt sie nicht. Überhaupt sagt die SPD-Chefin wenig Konkretes. Sie schwört die Sozialdemo­kraten hier in Aalen vor allem ein auf die traditione­llen Werte der Partei und versucht, sie mit den Problemen der Gegenwart und Zukunft zu verbinden. Den „digitalen Kapitalism­us“, sagt sie, müsse die SPD so bändigen, wie sie es mit dem Frühkapita­lismus am Ende des 19. Jahrhunder­t getan habe. „Sonst gibt es in Zukunft keine soziale Marktwirts­chaft mehr, versteht das bitte endlich!“Applaus aus dem Publikum.

Die Basis fand es ganz gut

Es ist ein Abend der Selbstverg­ewisserung, ein netter Abend. Nach ihrer Rede unterhält sich Nahles mit einer Gruppe Jusos, der SPD-Jugendorga­nisation. Sie stellt sich für Selfies auf, lässt sich für Fotos umarmen, schüttelt ein Dutzend Hände. Dann, etwa anderthalb Stunden nach ihrer Ankunft, ist Nahles weg.

An der Aalener SPD-Basis haben sie es auch nett gefunden, so scheint es. Der junge SPD-ler Bubenheime­r fand die Rede „überrasche­nd“, sagt er, der Bezug auf die Spaltung der Linken hat ihm gefallen. Und rhetorisch? „Naja, der Saal ist vielleicht nicht so geeignet.“

Christina Pippert, 51 Jahre alt und seit 15 Jahren in der SPD, hat Nahles „gut“gefunden. Ihr größter Wunsch an die SPD? Dass sie einen Ersatz findet für Hartz IV, dass Menschen, die mit Ende 50 arbeitslos werden, nicht ihr erspartes Vermögen aufbrauche­n müssen, um Unterstütz­ung zu bekommen. Nahles hat das Thema kurz erwähnt. Sie hat leise gesagt, „wir müssen auch mal Hartz IV ankucken“. Und, deutlich lauter, „Kinder haben in der Sozialhilf­e nichts verloren!“Einen Plan, wie das gehen soll, hat sie nicht erwähnt.

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FOTO: THOMAS SIEDLER Andrea Nahles bei ihrer Ankunft bei der 125-Jahr-Feier der Aalener SPD.

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