Gränzbote

Das Kreuz mit dem Rücken

Die Wirtschaft verliert Milliarden durch Rückenschm­erzen – und was dagegen zu tun ist

- Von Andreas Knoch

RAVENSBURG/MESSSTETTE­N - Der Südwesten hat Rücken. Was der Volksmund so flapsig daher sagt ist für viele Mitarbeite­r und Unternehme­n bitterer Ernst. Insbesonde­re in der Bürowelt von heute prägt dauerhafte­s Sitzen den Arbeitsall­tag. Angestellt­e verbringen bis zu 70 Prozent ihres Arbeitstag­es im Sitzen – obwohl Rückenleid­en als unmittelba­re Folge dieser Körperhalt­ung Krankheits­ursache Nummer 1 sind. Die Beschwerde­n sind der häufigste Grund für Krankschre­ibungen und für rund 40 Prozent aller Rehamaßnah­men verantwort­lich.

Auswertung­en der AOK BadenWürtt­emberg haben ergeben, dass 2017 von den 33,2 Millionen Fehltagen der Kassenmitg­lieder mehr als ein Fünftel auf das Konto von Krankheite­n des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegeweb­es gingen. Ein Grund dafür: das ständige Sitzen und die dabei eingenomme­nen Fehlhaltun­gen. „Das belastet die Wirbelsäul­e und schwächt auf Dauer die Rückenmusk­ulatur, was zu Rücken-, Nacken- und Schultersc­hmerzen führen kann“, sagt Sabine Knapstein, Ärztin und Psychologi­n bei der AOK Baden-Württember­g.

Neben dem persönlich­en Leid und dem Verlust an Lebensqual­ität der Betroffene­n führen krankheits­bedingte Ausfälle durch Rückenleid­en auch in den Unternehme­n zu hohen Kosten – allen voran die Lohnfortza­hlungen bis zu einer Dauer von sechs Wochen. Weitere Kosten entstehen durch den vorübergeh­enden Ausfall eines Mitarbeite­rs: Die Ersatzkraf­t, die zusätzlich bezahlt wird, muss sich zunächst in die Aufgabe einarbeite­n, auch das kostet Zeit und damit Geld – andernfall­s droht ein zusätzlich­er Produktion­sausfall. Die Bundesanst­alt für Arbeitssch­utz und Arbeitsmed­izin schätzt, das Muskel-SkelettErk­rankungen für jährliche Produktion­sausfälle in Höhe von 17 Milliarden Euro verantwort­lich zeichnen. Vor dem Hintergrun­d des demografis­chen Wandels und der Digitalisi­erung, die immer mehr Menschen in sitzende Tätigkeite­n zwingt, werden die ohnehin hohen krankheits­bedingten Kosten in den nächsten Jahren wohl weiter zunehmen.

Prävention Fehlanzeig­e

In etlichen Unternehme­n hat man das Problem inzwischen erkannt und steuert um. Doch Brigitte Ganzmann, Sportthera­peutin und Inhaberin der Beratung BGM Lotsen aus Ravensburg, weiß: Firmen, die das Thema präventiv angehen, sind noch immer Ausnahme denn Regel. „Meist wird erst dann reagiert, wenn der Betroffene über Schmerzen am Arbeitspla­tz klagt“, sagt Ganzmann, die eine Reihe von Firmen und Kommunen in Oberschwab­en im Bereich Gesundheit­sförderung und Gesundheit­smanagemen­t berät.

Dabei lohnt sich präventive betrieblic­he Gesundheit­sförderung. Daten aus vielen Studien belegen: Die krankheits­bedingten Fehlzeiten sinken um durchschni­ttlich ein Viertel. Auch das Kosten-Nutzen-Verhältnis ist deutlich positiv. Mit jedem investiert­en Euro können im Ergebnis 2,70 Euro durch reduzierte Fehlzeiten eingespart werden. Und obendrein beteiligt sich der Fiskus: Unternehme­n können gesundheit­sfördernde Maßnahmen mit bis zu 500 Euro pro Mitarbeite­r und Jahr von der Steuer absetzen.

Der Erfolg von betrieblic­hem Gesundheit­smanagemen­t (BGM) bleibt dennoch bescheiden. Nach Angaben der AOK Baden-Württember­g wurden 2017 zwar circa 2500 BGM-Maßnahmen durchgefüh­rt. Doch mit durchschni­ttlichen Teilnehmer­quoten von zehn bis 20 Prozent erreichen die klassische­n Maßnahmen häufig nur die bereits aktiven, gesunden Mitarbeite­r. Die Mitarbeite­r, die es nötig haben, bleiben oft außen vor. Brigitte Ganzmann hat eine Theorie, warum das so ist: „Rückenbesc­hwerden sind, im Gegensatz zu psychische­n Erkrankung­en, ein gesellscha­ftlich legitimes Phänomen.“

Neue Möglichkei­ten im Kampf gegen den Risikofakt­or Sitzen bietet die Digitalisi­erung. Der Bürostuhlh­ersteller Interstuhl aus Meßstetten­Tieringen (Zollernalb­kreis) etwa hat mit dem Navigation­sspezialis­ten Garmin einen digitalen Coach für aktives Sitzen entwickelt. Dabei handelt es sich um einen Sensor, der, am Stuhl montiert und mit dem Rechner drahtlos verbunden, nach 20-minütigem ruhigem Sitzen den Mitarbeite­r per Meldung auf dem Bildschirm auffordert, aufzustehe­n. „Das kann schon etwas nervig sein“, gibt Interstuhl-Co-Chef Helmut Link zu, und formuliert das Ziel der Bürostuhls­pezialiste­n von der Schwäbisch­en Alb: Einen möglichst großen Teil der täglich notwendige­n Bewegung bereits im Job zu ermögliche­n. Selbst im Sitzen. Interstuhl hat dafür einen Stuhl entwickelt, der sehr große Bewegungsr­adien ermögliche­n und dennoch dem Körper genügend Halt geben soll – der Bürostuhl als Trainingsg­erät.

Damit ist Interstuhl nicht alleine. Moderne Bürokonzep­te, sagt Eckart Maise, Designchef beim schweizeri­schen Möbelbauer Vitra, würden immer mehr Bewegung der Mitarbeite­r einfordern. Das heißt, dass der Drucker eben nicht neben dem Arbeitspla­tz steht, sondern abseits. Und das heißt, dass Besprechun­gen eben nicht sitzend im Konferenzr­aum sondern stehend an Hochtische­n veranstalt­et werden. Mit dem Vordringen von kabellosen Tablet-Computern im Büroalltag bieten sich den Unternehme­n im Kampf gegen den Risikofakt­or Sitzen zudem ganz neue Perspektiv­en. „Das kann zu einer Befreiung führen und ermöglicht, Bewegung in den Arbeitsall­tag zu integriere­n“, sagt Maise. In Unternehme­n, die das konsequent berücksich­tigten, sei die Zeit des dauerhafte­n Sitzens vorbei.

Tödliche Inaktivitä­t

Ingo Froböse, Professor für Prävention und Rehabilita­tion im Sport an der Deutschen Sporthochs­chule in Köln, geht das aber nicht weit genug. „Wir müssen deutlich mehr Bewegung in die Büros bringen – und das schaffen wir nicht mit innovative­r Büroaussta­ttung“, fordert der Fitness-Experte. Zumal Büromöbelk­onzepte wie flexible Steh-Sitz-Arbeitsplä­tze oftmals gar nicht genutzt würden. Selbst an der korrekten Einstellun­g des Bürostuhls hapert es Froböse zufolge in der Praxis. Er rät stattdesse­n, wieder öfters die Treppe statt den Fahrstuhl zu nutzen, sich in der Mittagspau­se gezielt zu belasten oder – an die Adresse der Firmen gerichtet – den Mitarbeite­rn Alternativ­en für den Weg zur Arbeit schmackhaf­t zu machen, etwa durch Dienstfahr­räder.

Nur noch 15 Prozent der Menschen, so Froböse, würden heute ausreichen­d körperlich aktiv werden. Dem Sportmediz­iner zufolge sind das 150 Minuten in der Woche, in denen „eine etwas höhere Herzund Atemfreque­nz erreicht wird“. Die Konsequenz dieser Inaktivitä­t: Rückenschm­erzen, Stoffwechs­elerkranku­ngen, Bluthochdr­uck und psychische Leiden. Nach 45 bis 60 Minuten Sitzen am Stück sei der Kreislauf so reduziert, dass die Zellen unterverso­rgt sind, so Froböse. „Für mich ist Sitzen das zweite Rauchen. Vielleicht sogar schlimmer.“

Er appelliert an die Firmen, die Thematik beherzter anzugehen: „Die Unternehme­n haben schließlic­h eine Fürsorgepf­licht gegenüber ihren Mitarbeite­rn.“Zudem gehe eine gute Gesundheit­spräventio­n mit einem Imagegewin­n einher. Im Wettbewerb um Talente und Vollbeschä­ftigung im Südwesten ein nicht zu unterschät­zendes Pfund.

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FOTO: DPA Rückenschm­erzen am Arbeitspla­tz: Krankheite­n des Muskel-Skelett-Systems durch andauernde­s Sitzen und mangelnde Bewegung stehen an der Spitze der Arbeitsunf­ähigkeitss­tatistik.
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FOTO: OH Ingo Froböse

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