Macron fordert in Berlin mehr Europa
Viel Applaus für Frankreichs Präsidenten im Bundestag – Massive Proteste in der Heimat
BERLIN (dpa/AFP) - Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat in seiner ersten Rede vor dem Bundestag die „unerschütterliche“deutschfranzösische Freundschaft beschworen und angesichts der globalen Herausforderungen mehr europäische Souveränität gefordert. „Europa, und in dessen Mitte das deutsch-französische Gespann, hat die Pflicht und die Aufgabe, die Welt nicht ins Chaos abdriften zu lassen und sie auf einen friedlichen Kurs zu bringen“, sagte Macron am Sonntag in Berlin.
In der Welt gebe es zahlreiche Herausforderungen, etwa die bedrohliche Sicherheitslage, den Klimawandel und die Migration, sagte er in seiner emotionalen Gedenkrede zum Volkstrauertag. Dabei wünschten „wir alle uns eine geregelte Weltordnung, einen fairen Handel, eine geschützte Umwelt“. Wenn Europa selbst über seine Zukunft entscheiden und die Bürger gegen neue Risiken schützen wolle, brauche die Union mehr Souveränität.
Dazu sei auch der Mut erforderlich, gemeinsam ein neues Kapitel aufzuschlagen. „Das schulden wir Europa“, sagte Macron. Er räumte ein, dass diese Aufgabe Angst mache. Jeder müsse im Sinne einer Vergemeinschaftung seine Entscheidungsgewalt teilen – in Sachen Außenpolitik, Migrationspolitik, beim Haushalt und sogar bei den Steuereinnahmen.
Ziel sei es, eine europäische Verteidigung zu verwirklichen, aus dem Euro eine internationale Währung mit europäischem Haushalt zu machen und ein europäisches Flüchtlingsamt zu schaffen. Er mahnte seine Zuhörer: „Wir haben die Aufgabe, jetzt zu handeln, weil wir es Europa schulden, weil wir es der Welt in ihrem derzeitigen Zustand schulden.“ Die Welt stehe am Scheideweg: entweder sie stürze sich „in den Abgrund der grenzenlosen Faszination für Technologie ohne Gewissen, Nationalismus ohne Gedächtnis und Fanatismus ohne Werte“. Oder aber sie besinne sich „auf die aufregenden Errungenschaften des Fortschritts“. Die Rede schloss der 40-Jährige mit den Worten: „Es lebe Frankreich. Es lebe Deutschland. Es lebe die deutsch-französische Freundschaft. Es lebe Europa.“Die Zuhörer erhoben sich und klatschten lange Beifall.
Anschließend war Macron bei Kanzlerin Angela Merkel (CDU) im Kanzleramt zu Gast. Sie kündigte bis zum EU-Gipfel Mitte Dezember weitreichende deutsch-französische Vorschläge an. Man müsse nun „auch wirklich liefern“. Dazu gehören ein neues Eurozonen-Budget sowie der Ausbau des Rettungsfonds ESM zu einem Europäischen Währungsfonds für Finanzkrisen. Streit gibt es um eine Digitalsteuer, um Konzerne wie Amazon und Apple in der EU zur Kasse zu bitten. Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) erteilte der raschen Einführung eine Absage.
Große Probleme hat Macron derweil in der Heimat. Bei eskalierenden Massenprotesten gegen die von seiner Regierung geplanten Steuererhöhungen, unter anderem auf Benzin und Diesel, starb am Samstag eine Frau bei einem Unfall während einer Demonstration. Landesweit kam es zu gut 2000 Kundgebungen. Hierbei wurden 400 Personen verletzt, 157 wurden in Gewahrsam genommen.
BERLIN (dpa) - Er wirbt und wirbt und wirbt. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron wird nicht müde, die deutsche Kanzlerin mit auf seinen Reformkurs einzuladen. Angela Merkel will sich jetzt an die Detailarbeit machen – und lobt Macron für eine „großartige“, ungewöhnliche Rede im Deutschen Bundestag.
Macron ist zum Volkstrauertag 100 Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs zu Besuch. „Das Gefühl, das ich heute empfinde, ist Dankbarkeit“, sagt er. Seine Ruckrede im Bundestag ist bewegend. Sie endet mit den Worten: „Es lebe Frankreich. Es lebe Deutschland. Es lebe die deutschfranzösische Freundschaft. Es lebe Europa.“Die Zuhörer stehen auf und spenden lange Beifall. Das gibt es so nicht oft.
Viele seiner Worte sind ein neuerliches Werben um Kanzlerin Angela Merkel (CDU), endlich die Reformen in Europa mit voranzutreiben. Deutschland und Frankreich hätten ihre Differenzen in der EU nie verleugnet, sondern auf den Tisch gelegt. Heute „müssen wir den Mut finden, ein neues Kapitel aufzuschlagen. Das schulden wir Europa“und denjenigen, die in den letzten 70 Jahren daran gearbeitet hätten.
Andere Herausforderungen
Heute seien die Herausforderungen andere – Umwelt und Klimawandel, Migration, neuer Nationalismus, und die Digitalisierung. Deutschland und Frankreich müssten ihre Tabus, ihre unterschiedlichen Sichtweisen auf Europa überwinden. Europa müsse mit den notwendigen Instrumenten gegen neue Krisen ausgestattet werden – neben einem Währungsfonds zur Absicherung des Euro schwebt ihm auch eine europäische Armee vor – was US-Präsident Donald Trump auf die Palme bringt. Diese Welt stehe am Scheideweg, welche Rolle könne Europa dabei spielen?
Es ist quasi ein Gegenbesuch, nachdem vergangene Woche in Compiègne und Paris der Millionen Toten des Ersten Weltkriegs gedacht wurde. Berlin und Paris proben in schwierigen Zeiten den Schulterschluss, auch wenn es zuletzt kräftig hakte – Macrons Vorschläge für eine Neugründung Europas wurden klein gehäckselt, auf den kleinsten gemeinsamen Nenner. In Zeiten von AfD, Lega in Italien und nationalistischen Regierungen wie in Polen und Ungarn werden große Würfe immer schwieriger. Und gerade die Union bremst hier. Macron lässt nicht locker. Begeistern kann er immer noch, gerade die Jugend. Das zeigt sich zu Beginn seines eintägigen BerlinTrips im früher größten DDR-Kino Kosmos an der Karl-Marx-Allee. Wie ein Popstar wird er beim Einzug mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier gefeiert, es gibt sogar ein Gruppenfoto mit den rund 500 Teilnehmern des Projekts „Youth for Peace – 100 Jahre Erster Weltkrieg, 100 Ideen für den Frieden“. 500 junge Menschen aus 48 Ländern in Europa, Afrika und dem Nahen Osten haben in den vergangenen Tagen darüber diskutiert, wie der Frieden in einer zunehmend unruhigeren, von Populismus dominierten Welt gesichert und der Zusammenhalt gestärkt werden kann. Ideen sind etwa ein paneuropäisches Jugendwerk und eine Vernetzung in sozialen Medien; von Jugendlichen entwickelte Lehrpläne für eine gemeinsame Geschichtsvermittlung mit einem viel stärker internationalen statt nationalen Lehransatz; die Gründung von europaweiten Clubs etwa an Schulen und Unis, die Vorurteile und „Fake News“gemeinsam bekämpfen.
Zuletzt gab es im Ringen um gemeinsame Reformen Bewegung auf deutscher Seite. Merkel betont bei einem Treffen mit Macron nach der Rede im Bundestag denn auch: Man müsse nun „wirklich liefern“. Mitte Dezember soll es beim EU-Gipfel zu Entscheidungen kommen.
Die Finanzminister Bruno le Maire und Olaf Scholz (SPD) einigten sich gerade auf den Rahmen für ein Eurozonen-Budget innerhalb der EU-Haushaltsstrukturen, um Investitionen in strukturschwachen Gegenden etwa in Griechenland oder Italien anzukurbeln. Und um den Euro durch gemeinsames Haushalten etwas krisenfester zu machen.
Doch mit wie viel Geld der Topf gefüllt wird, ist noch unklar, Deutschland zahlt bisher rund 30 Milliarden an die EU und will im Zuge des Austritts Großbritanniens bislang höchstens 10 Milliarden Euro mehr geben. Frankreich hat nach Italien mit 2,2 Billionen Euro die zweithöchsten Schulden in der Euro-Zone. Die wichtigste Reform dürfte der Umbau des Euro-Rettungsfonds ESM zu einem dauerhaften Europäischen Währungsfonds werden, damit bei neuen Krisen nicht wieder hektisch Rettungsschirme aufgespannt werden müssen.
Um frisches Geld für mehr Investitionen in Europa einzusammeln, will Paris zudem eine Digitalsteuer, um Internetgiganten wie Amazon, Google und Apple zur Kasse zu bitten. Doch schon wie die Steuer auf Finanztransaktionen droht das Projekt im Sande zu verlaufen. Denn Merkel und Scholz fürchten Vergeltungsmaßnahmen Trumps gegen deutsche Autokonzerne, die Iren bremsen, weil einige der Konzerne ihre europäischen Unternehmenssitze dort haben.