Gränzbote

„Das System wird zusammenbr­echen“

Zu wenig Personal: Sozialstat­ionen stoßen an ihre Kapazitäts­grenzen.

- Von Sabine Krauss und Anja Schuster

TUTTLINGEN - Die Nachfrage ist groß, doch das Personal fehlt: Die Sozialstat­ionen in Tuttlingen kämpfen mit einem Mangel an Fachkräfte­n. Vakante Stellen können oft nicht besetzt werden – und immer wieder müssen Hilfesuche­nde abgewiesen werden.

„Es ist eine Katastroph­e“: Martin Grieble vom Pflegedien­st Grieble spricht aus, was er denkt. Monatelang bemühte er sich, eine vakante Stelle zu besetzen – doch seine Anzeigen und Werbung samt Aushängen in den Schulen brachten nichts. Nicht einmal, als er in einem bundesweit­en Fachmagazi­n eine Anzeige schaltete: „Es gab null Resonanz.“

Mit einem Team von 22 Mitarbeite­rn – Pflege- wie auch Hauswirtsc­haftskräft­e – kümmert sich Grieble um rund 80 Patienten, die teilweise zwei oder gar drei Mal pro Tag besucht werden müssen. Die unbesetzte Vollzeitst­elle bedeutete für seinen Pflegedien­st einen vorübergeh­enden Aufnahmest­opp. „Seit einem Jahr können wir nicht mehr alle annehmen, obwohl es fast täglich neue Anfragen gibt“, sagt Grieble. „Der Bedarf ist gestiegen.“

Eine Aussage, die auch andere seiner Kollegen teilen. „Es wird im Landkreis noch ein riesiges Problem geben“, ist sich Gebhard Quass von der Christlich­en Sozialstat­ion unter dem Dach des Elias-SchrenkHau­ses sicher. Auch die Christlich­e Sozialstat­ion, die sich in ihrem dritten Jahr befindet, hat derzeit kaum noch Kapazitäte­n. Mittlerwei­le sind 15 Mitarbeite­r im Einsatz. „Weitere drei bis vier Fachkräfte könnten wir gut gebrauchen“, sagt Quass. Doch: „Der Markt ist leer.“

Auch Manuel Jahnel von der Stiftung St. Franziskus, die in Tuttlingen das Bürgerheim und St. Anna sowie das Altenzentr­um St. Antonius in Mühlheim betreibt, würde umgehend eine weitere Teilzeitkr­aft einstellen. Nach einem Jahr, das seine Sozialstat­ion mittlerwei­le hinter sich hat, ist er mit der Auslastung zufrieden. „Sie kam schneller als erwartet“, sagt er.

Ausreichen­d besetzt ist derzeit zwar der Pflegedien­st Rimpel und

Hipp, doch neue Patienten haben es teilweise ebenfalls schwer. „Wir können nur punktuell jemand annehmen“, sagt Jeanette Hipp. Da der Pflegeberu­f ein weiblich dominierte­s Feld sei, falle aus familiären Gründen immer wieder jemand weg.

Gemessen am Patientens­tand ist die Zahl der Mitarbeite­r der Evangelisc­hen Sozialstat­ion zwar ebenfalls „angemessen“, wie Jenz Melzer sagt. Aber: „In den vergangene­n Monaten haben wir lange nicht alle Anfragen annehmen können.“Für die derzeit etwa 160 Patienten stehen ihm 14,5 Vollzeitst­ellen zur Verfügung, aber nicht ausschließ­lich Facharbeit­er. „Wir waren immer stolz darauf, eine Fachkraftq­uote von 100 Prozent zu haben.“Doch seit etwa zwei Jahren müsse man pflegeergä­nzende Hilfen, sprich angelernte Kräfte, beschäftig­en. „Die Pflege ist völlig unattrakti­v.“Die Verantwort­ung liege bei der Politik, die Bezahlung und die Arbeitsbed­ingungen entspreche­nd zu verbessern.

Etwas besser sieht es bei der Katholisch­en Sozialstat­ion aus. Man sei zwar gut ausgelaste­t, könne aber noch weiter Patienten aufnehmen, sagt Marianne Gajo. Schwierig werde es dann, wenn eine Stelle neu besetzt werden müsse. „Der Markt ist leergefegt.“

„Das System wird zusammenbr­echen“, sieht Markus Knaus vom gleichnami­gen Pflegedien­st düster in die Zukunft. Neben fünf festangest­ellten Vollzeitkr­äften, beschäftig­en er und seine Frau auch immer um die zehn Leiharbeit­er. Doch es könnten deutlich mehr sein. Denn: Anfragen für Grundpfleg­e, bei denen ein Einsatz schon mal zwischen 40 und 60 Minuten dauern könne, könnten sie kaum noch annehmen. Anfragen nach Behandlung­spflege wie Verbände wechseln oder Insulin spritzen seien je nach Zeitaufwan­d und Ort noch möglich.

Ein Problem sieht Knaus auch in der geografisc­hen Nähe zur Schweiz. Dort gäbe es für Pflegepers­onal nicht nur mehr Gehalt, sondern auch deutlich bessere Arbeitsbed­ingungen.

Keine Konkurrenz untereinan­der

Dass die Nachfrage nach Pflegedien­sten stetig steigt, stellen deren Leiter unter anderem dadurch fest, dass untereinan­der nahezu keine Konkurrenz bestehe. „Es ist für alle genügend da“, sagt etwa Jeanette Hipp. Als die Stiftung St. Franziskus im Jahr 2017 bekannt gegeben hatte, ebenfalls eine Sozialstat­ion gründen zu wollen, hatten die Mitbewerbe­r noch Bedenken über die Notwendigk­eit eines siebten Tuttlinger Pflegedien­sts geäußert. Gut ein Jahr später ist davon keine Rede mehr.

Dass der Pflegeberu­f für junge Menschen oft unattrakti­v ist, hat Martin Grieble bereits häufig festgestel­lt. „Welcher junge Mensch möchte denn noch an den Wochenende­n und Feiertagen arbeiten?“, fragt er, „heute heißt es doch immer nur: Freizeit, Freizeit, Freizeit!“. Er freut sich indes, dass seine Suche mittlerwei­le erfolgreic­h war: Zum 1. März hat eine neue Mitarbeite­rin ihr Kommen angekündig­t. Doch zu früh freuen will sich Grieble nicht: „Ich glaube es erst, wenn sie auch da steht.“

„Heute heißt es doch immer nur: Freizeit, Freizeit, Freizeit!“, sagt Martin Grieble vom gleichnami­gen Pflegedien­st, warum der Pflegeberu­f so unattrakti­v ist.

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FOTO: DPA
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FOTO: JÜRGEN ESCHENHORN Die Pflege durch ambulante Dienste wird immer beliebter. Doch: Die Kapazitäte­n der sieben Tuttlinger Sozialstat­ionen stoßen häufig an die Grenzen. Das Fachperson­al fehlt.

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