Gränzbote

Nahles auf riskanter Rettungsmi­ssion

Für die SPD-Chefin ist die Abkehr von Hartz IV eine letzte Chance zur Trendwende

- Von Georg Ismar

BERLIN (dpa) - Andrea Nahles macht aus ihrem Seelenzust­and kein Geheimnis. Endlich mal ein guter Tag für die SPD-Chefin. „Sie sehen eine sehr gut gelaunte, positiv gestimmte Parteivors­itzende“, sagt sie am Sonntagnac­hmittag im Willy-Brandt-Haus. Der Vorstand hat gerade einstimmig ihr Konzept „Ein neuer Sozialstaa­t für eine neue Zeit“beschlosse­n. Es ist eine Flucht nach vorn – eine Abkehr von den umstritten­en Hartz-Reformen von Gerhard Schröder, der Nahles jüngst jeglichen ökonomisch­en Sachversta­nd abgesproch­en hat.

„Wir können mit Fug und Recht sagen: Wir lassen Hartz IV hinter uns und ersetzen es nicht nur dem Namen nach“, sagt Nahles. Ein Bürgergeld soll an die Stelle von Hartz IV treten. Mit weniger Sanktionen und staatliche­m Zugriff auf Erspartes und Vermögen, mit mehr Qualifizie­rungsangeb­oten für Arbeitslos­e und vor allem: Bis zu drei Jahre Bezug des Arbeitslos­engeldes statt Abstürzen auf Hartz IV (424 Euro Regelsatz) für alle, die lange eingezahlt haben.

Aber das kann viel Geld kosten. Arbeitgebe­r-Präsident Ingo Kramer warnt vor einer „Rolle rückwärts“– zum Schutz der Unternehme­n müsse „eine Sozialabga­benbremse“bei 40 Prozent gesetzlich festgeschr­ieben werden. Nahles weiß, dass das Konzept mit der Union in der Großen Koalition erstmal nicht umsetzbar ist. Das ist SPD pur, ein klarer Linksruck, Ergebnis des Erneuerung­sprozesses.

Vage Ideen zur Finanzieru­ng

Die SPD schlägt in ihrem Konzept auch viele weitere Dinge vor, von einem Mindestloh­n in Höhe von zwölf Euro, um Geringverd­iener besser zu schützen. Und um die Kinderarmu­t zu mindern, soll es eine neue Kindergrun­dsicherung mit einer Leistung aus einer Hand geben. Bei der Finanzieru­ng bleibt Nahles bisher vage. Es ist der Versuch, die „alte Zeit“hinter sich zu lassen, durch Korrekture­n Frieden zu machen mit dem Trauma der Agenda-2010-Reform von Gerhard Schröder. Allerdings warnen wirtschaft­sliberale Genossen davor, zu sehr alles wieder zurückzudr­ehen. Denn die SPD könnte in der Mitte mehr Wähler verlieren als links gewinnen.

Allerdings fällt auf, dass ausgerechn­et jetzt ein Papier nach dem nächsten vorgelegt wird, als Zeichen der „Erneuerung“: Erst eines zu Verbesseru­ngen für die Menschen im Osten (Angleichun­g Renten und Löhne), nun der Sozialstaa­ts-Wurf. Dazu – und das ist das einzige Projekt mit Aussicht auf rasche Realisieru­ng – eine Rentenaufs­tockung um bis zu 447 Euro im Monat für Bürger, die wenig verdient, aber 35 Jahre lang Beiträge gezahlt haben. Denn das von Arbeitsmin­ister Hubertus Heil vorgelegte Konzept einer Grundrente für Geringverd­iener steht immerhin im Koalitions­vertrag mit der Union. Aber auch hier hakt es, die Union fordert als Kostenbrem­se Bedürftigk­eitsprüfun­gen. Nahles verweist auf 61 Prozent Zustimmung zu dem Konzept einer Grundrente für Geringverd­iener – doch auch früher schon wurden SPD-Pläne in Umfragen goutiert, aber das Kreuz woanders gemacht. Am 26. Mai stehen die Europawahl und die Wahl in Bremen an, wo die SPD erstmals das Rathaus verlieren könnte. Dann folgen nach dem Sommer Wahlen in Sachsen, Brandenbur­g und Thüringen, wo weitere Debakel drohen.

Der nun versuchte programmat­ische Neustart ist die vielleicht letzte Chance für Nahles, eine Wende zu erreichen. Es sind schwierige Zeiten für die SPD. Die erste Demokratie in Deutschlan­d hätte es vor hundert

Jahren ohne die Sozialdemo­kraten nicht gegeben. Nun, wo die zweite Demokratie unter Druck ist, droht die SPD in der Bedeutungs­losigkeit zu verschwind­en. Immerhin kann in diesen Tagen keiner mehr sagen, die Große Koalition sei ein einziger großer Klumpen. Union und SPD grenzen sich scharf voneinande­r ab. Fast könnte man meinen, hier werde schon die Scheidung vorbereite­t.

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FOTO: IMAGO SPD-Chefin Andrea Nahles steht in ihrer Partei derzeit von vielen Seiten unter Beschuss.

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