„Migration“aus philosophischer Sicht
Julian Nida-Rümelin zu Gast in der Tuttlinger Stadthalle
TUTTLINGEN - Mit Julian Nida-Rümelin fordert einer der renommiertesten deutschen Philosophen eine steuernde Migrationspolitik gemäß ethischen Kriterien, die Auswirkungen auf Migrierende, Aufnehmende und auch auf die Herkunftsländer berücksichtigen. Am Donnerstag ist der Münchener Professor für Philosophie und Politik in der Stadthalle zu Gast gewesen.
Nida-Rümelins Besorgnis über die demokratieschädliche Entwicklung im öffentlichen Diskurs um die Flüchtlingsfrage sei der Anstoß für sein Buch „Über Grenzen denken“gewesen. Die Philosophie solle darin Vernunft und Klarheit in die Auseinandersetzung bringen. Gleichzeitig berücksichtigt der Philosoph auch die empirische Dimension des Themas in Form von Fakten und Statistiken – und die praktischen Handlungsmöglichkeiten der Politik.
„Wir leben in einer extrem ungerechten Welt“, erklärt Nida-Rümelin. zwei Milliarden Menschen lebten in unvorstellbarem Elend von weniger als zwei US-Dollar Kaufkraft am Tag. „Die Ungerechtigkeit ist, dass nichts dagegen geschieht.“Dabei würden 35 bis 42 Milliarden US-Dollar pro Jahr oder ein Prozent des Weltsozialproduktes genügen, um diese Grenze anzuheben. China sei gerade dabei in diese Lücke zu stoßen und neue Abhängigkeit in Form von Krediten zu schaffen.
Legitim ist für Nida-Rümelin der Aufbruch junger Männer aus Regionen ohne Perspektiven. Er sieht Armutsflüchtlinge aus dem subsaharischen Afrika als die zukünftige Herausforderung. Allerdings könne niemand aus der „Bottom Billion“, der Unterschicht Afrikas, die 6000 bis 9000 US-Dollar für eine Flucht aufbringen. Zu uns kämen Angehörige der unteren oder sogar oberen Mittelschicht, in deren Ausbildung ihre Herkunftsländer investiert hätten. Sie fehlten jetzt dort, während aufnehmende Länder profitierten. „Da muss es Kompensationen geben“, fordert Nida-Rümelin. Nur in Asien funktioniere derzeit ein Rückfluss von Knowhow. Anderen Gegenden drohe dagegen die Entvölkerung. Vor Ort in Afrika schlägt Nida-Rümelin deshalb einen „Marshall Plan“vor, mit Joint Ventures, staatlicher Zusammenarbeit, Ausbildungskooperationen und Austauschprogrammen.
Unbequem und unangenehm
„Unangenehme“und „unbequeme“Aussagen mute er den Zuhörern zu, warnt Nida-Rümelin. Wer glaube, mit der Aufnahme von Flüchtlingen bei geöffneten Grenzen die Welt von Hunger und Elend befreien zu können, sei im Irrtum. „Entfesselte“globale Märkte und ein globalisierter Arbeitsmarkt bei offenen Grenzen könnten sich nicht selber regeln. Die Notwendigkeit von Grenzen erklärt der Philosoph mit dem menschlichen Bedürfnis nach Bindungen, nach Gemeinschaft und Struktur. Grenzen seien die Voraussetzung für individuelle und kollektive Selbstbestimmung. Politische Entscheidungen müssten mit diesem Selbstbestimmungsrecht der Bürger verträglich sein.
Als Beispiel nannte Nida-Rümelin das Selbstbestimmungsrecht, einen Obdachlosen, der plötzlich in der Wohnung auftauche, bei sich wohnen zu lassen - oder auch nicht. „Sie brauchen deshalb Ihr Leben nicht auf den Kopf zu stellen. Das gilt auch für Staaten.“Aus der drohenden Gefahr, der Obdachlose könnte draußen erfrieren, erwachse jedoch die moralische Pflicht zur Hilfe. So hätte sich die Völkergemeinschaft in der Genfer Konvention verpflichtet, Kriegsflüchtlingen zu helfen. Nida-Rümelin schlägt vor, als Weltgemeinschaft Flüchtlinge nahe ihrer Herkunftsregion human, sozial und bildungsmäßig zu versorgen.
In den Jahren 2015 und 2016 seien 1,5 Millionen Flüchtlinge mit einer „eindrücklichen Willkommenskultur“in Deutschland aufgenommen worden. Doch politisch sei laut NidaRümelin „etwas aus dem Ruder gelaufen und man hätte uns das besser so gesagt“. Als politische Strategie hätte sie laut Nida-Rümelin in Deutschland und Europa diskutiert und demokratisch entschieden werden müssen. In der anschließenden Diskussion wurden die Herausforderungen durch das Bevölkerungswachstum und auch die politische Einflussnahme der Wirtschaft näher thematisiert.