Hochwasssergefahr im Süden
Meteorologen rechnen mit extremen Niederschlägen
OFFENBACH (dpa) - Der Deutsche Wetterdienst (DWD) rechnet diese Woche mit extremen Regenfällen im Süden Deutschlands. Vom Bodensee bis zum Berchtesgadener Land könnten bis zum Mittwochmorgen mehr als 100 Liter Regen pro Quadratmeter fallen. Örtlich seien sogar Niederschläge von mehr als 150 Litern möglich. Bei derartigen Niederschlagsmengen sei mit Überschwemmungen zu rechnen – zumal die Bäche und Flüsse derzeit noch Schmelzwasser aus den Bergen führen. Schwere Gewitter, überflutete Keller und Straßen könnten die Folge sein. „Die Lage ist sehr heikel“, sagte DWD-Meteorologe Clemens Steiner in Stuttgart. Auch, weil am Sonntag bereits viel Regen gefallen sei, bestehe Hochwasserrisiko.
So schlimm wie vor 20 Jahren ist die Situation jedoch bei Weitem nicht. Heute jährt sich das Pfingsthochwasser von 1999. Brennpunkt war das Oberallgäu.
IMMENSTADT - Helmut Hochstatter erinnert sich: „Es war furchtbar. Alles ist unter Wasser gestanden.“20 Jahre ist dies nun her. Seinerzeit war Pfingsten – und im Allgäu, am östlichen Bodensee und einigen Donauabschnitten ging die Welt unter. Nicht nur ein bisschen. Seit Generationen hatte es in den betroffenen Landstrichen keine solche Flutkatastrophe mehr gegeben. Das gab dann immerhin den Anstoß, enorm in den Hochwasserschutz zu investieren.
Der umtriebig wirkende Hochstatter war damals, als die Flut kam, Platzwart des Tennisclubs GrünWeiss Immenstadt gewesen. Der inzwischen 72-Jährige ist dies immer noch. Sein Reich liegt in einem idyllischen Winkel. Schweift an schönen Tagen der Blick, bleibt er an umliegenden Allgäuer Bergen hängen. Neben den Tennisplätzen steht ein schmuckes Vereinsheim. Dahinter bietet der buschig bewachsene Illerdamm viel Grün. Der Fluss selber plätschert meist friedlich in Richtung der fernen Donau weiter. Nur manchmal ist dies eben nicht der Fall.
Zu Pfingsten 1999 war sowieso alles anders. Die Iller machte das Städtlein Immenstadt am Alpsee mit seinen 14 000 Einwohnern zum Brennpunkt der Ereignisse. Sie gingen als Pfingsthochwasser in die Annalen ein. „Die Flut trieb Öllachen von privaten Heizöltanks über den Platz. Das Wasser erreichte das eh schon höher gelegene Vereinsheim. Tische und Möbel schwammen. Auf der Iller trieb ein weggerissener Wohnwagen vorbei“, berichtet Hochstatter. Er zeigt aufs nahe gelegene Krankenhaus und erklärt: „Das musste rasch evakuiert werden.“
„Im Gebäude war der Strom ausgefallen. Wir evakuierten Patienten über den bereits schon überschwemmten Bahndamm. Schwerstkranke wurden dort vom Helikopter aufgenommen“, berichtet Feuerwehrkommandant Guntram Brenner. Er war als Gruppenführer mittendrin in den Ereignissen. Eine Woche seien die Feuerwehrkräfte kaum zum Schlafen gekommen. Sandsackbarrieren gegen das Wasser bauen, Keller auspumpen et cetera. „In den Tiefgaragen“, sagt er, „sind die Autos durch die Flut an die Decken gequetscht worden.“
60 Millionen Euro betrugen die Schäden allein am Oberlauf der Iller. Insgesamt soll das Pfingsthochwasser jedoch nach Schätzungen Werte in Milliardenhöhe vernichtet haben. Vielerorts standen die Menschen im Wasser. In Lindau drang der Bodensee ein Stück weit in die Altstadt auf der Insel vor. Vis-á-vis meldete die Vorarlberger Landeshauptstadt Bregenz für ufernahe Viertel Land unter. Die weltberühmte Seebühne war nur mit dem Schiff zu erreichen. Schweizer Kantone meldeten Hochwasser. Richtung Donau hin – also in Fließrichtung von Alpenflüssen wie der Iller – bekamen Städte wie Neu-Ulm, Neustadt oder Augsburg Probleme.
Was war aber überhaupt geschehen? Wie konnte es so weit kommen? Schließlich waren die betroffenen Regionen jahrzehntelang von solch dramatischen Ereignissen weitgehend verschont geblieben. „An etwas Vergleichbares kann ich mich nicht entsinnen“, sagt Immenstadts Feuerwehrkommandant Brenner. Auch von älteren Leuten habe er nichts Entsprechendes gehört. Chroniken aus der Region vermelden ebenso wenig für die jüngere Zeit solche Flutfolgen.
Bei der Ursachensuche muss natürlich erst einmal Richtung Himmel geblickt werden. Der Deutsche Wetterdienst hat die Ereignisse analysiert. Die Malaise fing demnach bereits tief im Winter an. Es hatte extrem viel geschneit. Zur Erinnerung: Seinerzeit war der berüchtigte Lawinenwinter. Im Januar hatten herabdonnernde Schneemassen den Tiroler Ferienort Galtür tödlich getroffen.
Vor Pfingsten, im Jahr 1999 in der dritten Maiwoche gelegen, war es immer mal wieder ungewöhnlich heiß gewesen. Der Schnee schmolz rapide bis auf Höhen von 2500 Metern. Das bedeutete: Sehr viel Wasser floss die Berge herab, Seen, Flüsse und Bäche waren voll. Damit nicht genug. Es hatte auch immer mal wieder geregnet. Wiesen waren mit Wasser gesättigt und nicht mehr aufnahmefähig.
In dieser Situation setzte anhaltender Regen ein. „Es ist nur noch so heruntergeplatscht“, berichtet Hartmut Dahm, ein Maschineneinrichter aus Immenstadt. Als er von der Nachtschicht heim wollte, habe er durch knietiefes Wasser waten müssen. Im Bereich von Bad Hindelang, einer Kommune unweit von Immenstadt, fielen die größten Niederschlagsmengen – und zwar in einem Ausmaß, wie es dort nur alle 250 Jahre zu erwarten ist. Der Wetterdienst schreibt zur Katastrophenentwicklung: „In diesem Fall wirkten verschiedene Faktoren in Form von anhaltenden starken Niederschlägen im Stau der Alpen, Schneeschmelze sowie bereits feuchtgesättigte Böden zusammen, was ein verheerendes Hochwasser zur Folge hatte.“Die Meteorologen machen aber noch auf etwas anderes aufmerksam: nämlich wie rasch sich bei einer entsprechenden Lage im „hydrologischen Einzugsgebiet von Donau und Bodensee“extreme Hochwasser entwickeln könnten.
Statistisch gesehen, ist dies in der beschriebenen Region alle 50 bis 100 Jahre der Fall. Wobei die Natur auf Zahlenwerke keine Rücksicht nimmt. Gerade mal sechs Jahre dauerte es bis zur nächsten Extremflut. Sie ist als Augusthochwasser bekannt. Teilweise war noch mehr Wasser unterwegs als 1999. Doch die Folgen hatten nicht mehr überall dasselbe Ausmaß. An diesem Punkt des Themas kommt man zum Kapitel Hochwasserschutz, eine eigene Geschichte.
Wer sich einliest, stellt Folgendes fest: Nach HochwasserEreignissen im 19. Jahrhundert wurde angefangen, größere Schutzmaßnahmen zu ergreifen: neue Dämme und Flussbegradigungen, damit das Wasser schneller abläuft. Ein Nebenergebnis war das Gewinnen von kultivierbaren Flächen – was sich später teilweise rächte, weil den Flüssen ihre natürlichen Überschwemmungsgebiete weggenommen wurden.
Jedenfalls dauerte das Engagement bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts hinein. Dann scheinen die Anstrengungen zu erlahmen. Karl Schindele, Leiter des unter anderem für die Iller zuständigen Wasserwirtschaftsamtes Kempten, bestätigt den Eindruck: „Seit den 1920er Jahren hat es bei uns keine Immenstadt Süd, oder: Land unter. sehr großen Hochwasser mehr gegeben.“Deshalb sei bei der Bevölkerung das Bewusstsein für das Problem nicht mehr so präsent gewesen. Erst die jüngsten Ereignisse änderten das wieder.
„Seitdem“, betont Schindele, „gibt es auch wieder bedeutende Mittel für den Hochwasserschutz.“Dies sieht zumindest so aus. Größtes Projekt von vielen in der 1999 betroffenen Region sind die Pläne für den Alpenrhein auf den letzten 23 Kilometern vor seiner Mündung in den Bodensee. Über eine Milliarde Euro sollen verbaut werden. Wie genau, ist aber noch unklar. Gemacht wurde bisher nichts.
Da hat es das bayerische Allgäu inklusive des weißblauen Bodenseezipfels um Lindau herum besser. 250 Millionen Euro sind investiert worden. Davon flossen 100 Millionen Euro alleine in Arbeiten an der oberen Iller.
Streckenweise wurde der Fluss verlegt. Er bekam Überschwemmungsgebiete. Es gab neue Brücken mit mehr Durchlass. Für die Dämme entwickelte man alternative Bauverfahren. „Erosionssperren“, sagt Immenstadts Bürgermeister Armin Schaupp. Er weiß genau Bescheid. In seinem Leben vor der Kommunalpolitik war Schaupp Projektleiter für den Hochwasserschutz an der Oberen Iller gewesen.
Erosionssperren bedeuten, dass Betonwände inmitten der ansonsten aus Erde bestehenden Dämme sind. „Sie können dann zwar noch überspült werden, brechen aber nicht mehr so leicht“, erklärt Schaupp. Der Hintergrund dazu: Ein zentrales Element der Katastrophe von 1999 war das Wegspülen von Dämmen oberhalb von Immenstadt gewesen. Alles heranströmende Wasser hatte freie Bahn. „2005 war dies schon nicht mehr der Fall“, berichtet Schaupp. „Wir konnten die Ernte der Schutzmaßnahmen bereits einfahren.“
Generell hält der Bürgermeister die Stadt für gut gerüstet, was Flutereignisse wie 1999 angeht. Schaupp drückt eher eine andere Hochwassergefahr. Es geht um punktuellen, örtlich begrenzten Starkregen. Er kann in kürzester Zeit harmlose Rinnsale zu Killer-Gewässern machen. Dies war 2016 im hohenlohischen Braunsberg so, ebenso 2017 im niederbayerischen Simbach. „Solche Ereignisse sind kaum zu kalkulieren. Ein Schutz ist wesentlich schwerer zu erreichen“, erklärt Schaupp. Er will damit sagen, dass sich kaum die ganze Landschaft verbauen lässt: „Einen absoluten Schutz gibt es nicht.“
„Es ist nur noch so heruntergeplatscht.“Augenzeuge Hartmut Dahm
„Auf der Iller trieb ein weggerissener Wohnwagen vorbei.“Augenzeuge Helmut Hochstatter
Ein digitales Storytelling mit Augenzeugenberichten, Bildern und Video gibt es unter www.schwäbische.de/ hochwasser1999