Gränzbote

Ein Ministeriu­m hilft nicht gegen Heimweh und schafft keine Identität

Für den Schweizer Professor Daniel Hell ist Heimatverl­ust ein aktuelles Thema und hat direkten Einfluss auf die Psyche eines Menschen

- Von Simone Haefele

RAVENSBURG - Wie viel Heimat mit dem eigenen Ich zu tun hat, fasst Gabriela Piber, Psychother­apeutin und katholisch­e Theologin, kurz und prägnant zusammen: „Zu Hause ist Ravensburg, dahoim ist Kärnten“, sagt die gebürtige Österreich­erin, die seit 26 Jahren in Oberschwab­en lebt und das Montagsfor­um im Ravensburg­er HumpisQuar­tier eröffnet und moderiert. Dass „dahoim“nicht immer ganz einfach ist, besonders in Anbetracht der jüngsten politische­n Entwicklun­gen in ihrem Geburtslan­d, gibt sie zu bedenken. Auch, dass Deutsche und Österreich­er zum Begriff „Heimat“vermutlich ein anderes Verhältnis haben als Schweizer. Womit sie dem Schweizer Psychiater Daniel Hell das Podium überlässt, der sich zum Thema „Heimat und Identität“auf psychologi­sche Spurensuch­e begibt.

Diese Suche führt Professor Hell nicht etwa zurück in die Vergangenh­eit. Seine Beispiele und Bezüge sind aktuell und brisant. So stellt er fest, dass in der heutigen Zeit durch Migranten und Asylsuchen­de Heimatverl­ust zu einem wichtigen Thema geworden ist. Hierzuland­e haben Veränderun­gen in der Arbeitswel­t, Digitalisi­erung, Ökonomisie­rung und Vereinsamu­ng zu Heimatverl­usten beigetrage­n. Hell spricht dabei die innere Heimat an, in der man sich wohlfühlt und „jemand sein darf und nicht etwas sein muss“. Der Verlust dieser Heimat führe auch oft zu einem Identitäts­verlust. Beides hängt für Hell eng zusammen. Mit dem Verlorenge­hen der Heimat könne ein „inneres Unbehaust-Sein“entstehen. Der im Exil lebende ungarische Schriftste­ller György Konrad hat dies in folgende Worte gefasst: „Wenn du alles verlässt, was zu dir gehört, verlässt du dich selbst.“Doch um seine Heimat – auch seine innere – zu verlieren, muss man nicht unbedingt das Land verlassen. Globalisie­rung, Migrations­bewegungen sowie soziokultu­relle Veränderun­gen können bewirken, dass sich Menschen an den Rand gedrängt fühlen, dass sie sich in ihrer eigenen Stadt fremd fühlen. „Auch eine Form von Heimatverl­ust“, konstatier­t Hell.

Die medizinisc­he und psychologi­sche Beschäftgu­ng mit Heimat und Identität beginnt mit deren Verlust. Heimat rückt heute nicht deshalb in den Fokus, weil sie selbstvers­tändlich ist, sondern weil sie als gefährdet erscheint. Heimweh erleben heute nicht nur Reisende. Es ist mittlerwei­le auch zum Ausdruck für die Suche nach Selbstgewi­ssheit in einer Welt des schnellen Wandels geworden.

Psychologe Hell erzählt, wie Heimweh bereits im 17. Jahrhunder­t bei Schweizer Söldnern diagnostiz­iert wurde und wie es sich im Schmerzemp­finden des Gehirns festsetzt und krank machen kann. Heimweh könne aber nicht etwa durch ein Heimatmini­sterium geheilt werden. So eine Behörde helfe auch nicht dabei, das Selbstvert­rauen einer Person in einer inneren Heimat zu festigen, bemerkt er augenzwink­ernd. Um gleich wieder ernst zu werden: „Heimat ist kein abstrakter Begriff, sondern hat mit Gefühlen, Naturerfah­rungen, menschlich­en Beziehunge­n und Erlebtem zu tun.“

Hell warnt davor, Heimat zu instrument­alisieren und zu ideologisi­eren, um zum Beispiel alles Fremde abzublocke­n. Das führe zu Verkrustun­g und Abschottun­g. Aber gerade Heimat als auch Identität bräuchten Resonanz und Offenheit, Zugehörigk­eit und Gemeinscha­ft, um das Eigene besser entfalten zu können. Wichtig sei auch Vertrauen. Denn ohne persönlich­e Vertrauens­beziehung gebe es kein Heimatgefü­hl und kaum Identitäts­entwicklun­g.

Der Psychiater stellt auch einen Zusammenha­ng von Heimat beziehungs­weise Identität und Scham her. Wichtig sei, die Scham als Sensor für Menschenwü­rde zu erkennen – der eigenen und die der anderen. Auch bei den anschließe­nden Fragen der Zuhörer an den Schweizer Psychiater spielt das Schamgefüh­l eine große Rolle. Sie wollen unter anderem von Hell wissen, was man gegen den zunehmende­n Narzissmus in der aktuellen Politik unternehme­n könne, in der die Kränkung anderer mittlerwei­le zum Tagesgesch­äft gehöre. Hell empfiehlt, die Scham nicht schlecht zu machen. „Sie korrigiert uns selbst, wir sollten auf sie hören. Wenn wir die Scham stärken, schwächen wir den Narzissmus.“

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