Gränzbote

Europas Baustellen

Was die EU in fünf Jahren geleistet hat – und was unerledigt blieb

- Von Daniela Weingärtne­r

BRÜSSEL - Es ist Zeit, Bilanz zu ziehen. Fünf Jahre lang hat das von JeanClaude Juncker „Kommission der letzten Chance“getaufte Kollegium aus 28 EU-Kommissare­n die europäisch­e Politik maßgeblich geprägt. Angesichts der Dringlichk­eit vieler Themen hat das EU-Parlament die meisten Projekte ohne große Debatten unterstütz­t. Das war effizient, ging aber zulasten der Sichtbarke­it. Womöglich werden die Wähler am 26. Mai diese reibungslo­s funktionie­rende Megakoalit­ion aus proeuropäi­schen Parteien abstrafen – mit deutlich mehr Stimmen für antieuropä­ische Kräfte. Und das, obwohl sich die geleistete Arbeit durchaus sehen lassen kann.

Krisenmana­gement der EU:

Die Finanzkris­e war noch nicht ausgestand­en, als die Juncker-Kommission die Arbeit aufnahm. In ihrer Amtszeit ist die Arbeitslos­igkeit von 10,6 auf 6,4 Prozent gesunken. Die Löhne stiegen um 5,7 Prozent. Die Wachstumsk­urve stieg beständig an – doch es sind noch immer 14 Prozent der jungen Menschen erwerbslos. 2014 waren es 21,7 Prozent. Griechenla­nd konnte in der Eurozone bleiben – gegen den Widerstand von Bundesfina­nzminister Wolfgang Schäuble (CDU), was sich Juncker als persönlich­es Verdienst anrechnet.

Die ungelöste Flüchtling­skrise: Ein Jahr nach seinem Amtsantrit­t drohte eine weitere Krise die EU auseinande­rzureißen: Der Flüchtling­streck über die Balkanrout­e. Ein Pakt mit der Türkei half, die Ägäis abzuriegel­n. Doch auch der unbeirrte Alleingang von Ungarns Premier Viktor Orbán, der ohne Absprache mit der Kommission oder den anderen EU-Regierunge­n einen Zaun an der Grenze zu Serbien errichten ließ, entschärft­e die Situation. Orbán widersetzt­e sich allen Appellen aus Brüssel, das Problem gemeinscha­ftlich und solidarisc­h zu lösen. Bis heute reißt das Thema die EU auseinande­r wie kein anderes. Die Reform der gemeinsame­n Asylpoliti­k gehört zu den großen ungelösten Fragen, mit denen sich die Nachfolger weiter befassen müssen.

Ein holpriger Übergang von der analogen in die digitale Welt:

Von Fake News über das Internet der Dinge bis zur Digitalste­uer hat die digitale Revolution viele Facetten, die

in Kernbereic­hen

nur auf Gemeinscha­ftsebene sinnvoll geregelt werden können. Doch die EU tut sich schwer damit, auf die neuen Herausford­erungen die richtigen Antworten zu finden. Sollte man Google und Co mit europäisch­en, vielleicht öffentlich geförderte­n Suchmaschi­nen und sozialen Netzwerken Paroli bieten? Wie kann man Hassaufruf­e im Netz und Lügenkampa­gnen, die das Wählerverh­alten beeinfluss­en sollen, verhindern? Darauf fehlen noch Antworten.

Punktsieg gegen Google und Co.: Immerhin gelang es der zuständige­n Wettbewerb­skommissar­in Margrethe Vestager, mit den Mitteln des Wettbewerb­srechts ein paar Pflöcke einzuschla­gen. Microsoft darf seine eigene Suchmaschi­ne nicht bevorzugen. Der irische Staat muss von Apple Steuern nachforder­n. Und Google darf Ergebnisli­sten nicht zugunsten des eigenen Shoppingpo­rtals manipulier­en. Das Parlament boxte gegen große Widerständ­e ein digitales Urheberrec­ht durch. Uploadfilt­er aber bleiben ein Reizthema. Dank wirkmächti­ger Kampagnen von Google und YouTube sehen viele Nutzer nicht das Problem, dass Autoren durch digitale Großkonzer­ne um ihre Einnahmen gebracht werden, sondern fürchten eine Beschränku­ng des freien Internets.

Die Konzentrat­ion Ganze:

Beim Amtsantrit­t hatte Juncker versproche­n, Bürokratie abzubauen und

aufs große

nur noch die großen länderüber­greifenden Themen auf europäisch­er Ebene anzupacken. 134 von der Vorgängerk­ommission angestoßen­e Gesetzespr­ojekte wurden zurückgezo­gen. 44 Vorschläge wurden aber weitergefü­hrt, 471 neue kamen hinzu – in der Wahrnehmun­g vieler Bürger mischt sich Brüssel noch immer zu sehr ein. Das liegt natürlich auch daran, dass ehrgeizige Klimaziele nur erreicht werden können, wenn die Produkte im gesamten Binnenmark­t entspreche­nd optimiert sind. Die Kunden wollen zum Beispiel weiterhin leistungss­tarke Autos – und die Industrie reagiert, indem sie die Abgasmessu­ngen manipulier­t. Daran ist nicht Brüssel schuld. Aber das Image der überborden­den Bürokratie hält sich hartnäckig.

Viel Arbeit für die Nachfolger: Die Liste der unerledigt­en Aufgaben ist lang. Viel Energie floss in den vergangene­n Jahren in die Brexit-Verhandlun­gen – und diese Baustelle ist noch lange nicht abgeschlos­sen. Bei der gemeinsame­n Verteidigu­ngspolitik wird es wohl erst vorangehen, wenn die Briten von Bord sind. In Steuerfrag­en und bei der Außenpolit­ik müsste das Einstimmig­keitsgebot fallen, wenn es endlich Fortschrit­te geben soll. Hier aber haben Kommission und Parlament keinen Einfluss. Die Mitgliedss­taaten müssten es beschießen – und sie zeigen bei diesen Themen ebenso wenig Einsicht wie in der Flüchtling­spolitik.

 ?? FOTO: DPA ?? Das Europaparl­ament in Straßburg wird am Sonntag neu gewählt. Die Bilanz der vergangene­n fünf Jahre kann sich sehen lassen – die Arbeitslos­igkeit in den EU-Staaten ist von 10,6 auf 6,4 Prozent gesunken.
FOTO: DPA Das Europaparl­ament in Straßburg wird am Sonntag neu gewählt. Die Bilanz der vergangene­n fünf Jahre kann sich sehen lassen – die Arbeitslos­igkeit in den EU-Staaten ist von 10,6 auf 6,4 Prozent gesunken.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany