Mit SORA gehörte Spaichingen zur Modewelt
Manfred Ulmer brachte das Unternehmen in die Welt hinaus - 100. Geburtstag am 19. Juni - Teil 1
SPAICHINGEN - Am 19. Juni 2020 würde Manfred Johannes Ulmer 100 Jahre alt werden. Das einstige Einzelkind, in Roth bei Nürnberg geboren und als Halbwaise bei seiner Tante in Tübingen aufgewachsen, hatte immer von einer großen Familie geträumt, wie dessen Tochter Tina Ulmer erzählt. Am liebsten wären dem VfB- und Bayern-Fan vermutlich elf Buben gewesen, eine ganze Fußballmannschaft. Seine Frau Margarethe, eine aus Tübingen stammende, 1923 geborene Schnaidt, hat ihm in einer Zeitspanne von 23 Jahren letztlich sechs Töchter geschenkt (Rosy, Ute, Evelyne, Daphne, Tina und Kim), die allesamt einen Bruder hatten, den 2013 verstorbenen Frank. Zwölf Enkel könnte der Hundertjährige um sich scharen und weitere 14 Urenkel.
Diese nicht unumstrittene Unternehmerpersönlichkeit war bei allem zackigen, für viele unnahbar anmutenden Auftreten auch ein Familienmensch. Sowohl in seiner neunköpfigen leiblichen Familie, dem „Ulmer-Clan“, als auch im Kreis seiner großen SORA-Betriebsfamilie, deren Seele seine Frau war.
In einem Tandem auf Augenhöhe: Er, der umtriebige, hochvernetzte Verkäufer und Visionär. Sie, die geniale Designerin und die immer wieder Ausgleichende, die die Firma fest im Griff hatte.
Das kommt fast doppeldeutig in dem erhalten gebliebenen Firmenschild zum Ausdruck: Denn dessen „M“steht nicht nur für Manfred, sondern auch für Margarethe. Und dessen „K.G.“kann nicht nur als Kommanditgesellschaft gelesen werden, sondern vielleicht auch als „Kongeniale Gesellschafter“. Die sich in Gestalt zweier „Alpha-Tiere“ideal ergänzten und die miteinander unbestreitbar Großes hervorgebracht haben.
Manfred Ulmer war zeitlebends Soldat aus Leidenschaft und hat den Zweiten Weltkrieg als junger Kampfflieger im Geschwader Steinhoff erlebt. Und er hat 1944 wie durch ein Wunder überlebt, denn seine Maschine ist in der Nähe der italienischen Stadt Sora (am Rande der Abruzzen gelegen) abgestürzt. Dort hat er ein zweites Leben geschenkt bekommen. Und so zeugt der bewusst gewählte Markenname SORA von einer stillen, lebenslangen Dankbarkeit, von der viele Spaichinger bis dato gar nichts wussten.
Das ist umso bemerkenswerter, als die Ulmers nun wirklich nicht zu den bescheiden Auftretenden gezählt haben. Doch wer sich im Hochpreis-Segment der schillernden Modebranche bewegt, muss auffallen. Sollte nicht nur gesehen, sondern auch bewundert werden.
Dieser schnelllebigen und bisweilen gnadenlosen Modebranche hatten sich die Eheleute Ulmer mit Leib und Seele verschrieben. Er als risikofreudiger Gründer, umtriebiger Manager und vielgereister „Außenminister“. Sie als autodidakte
Modedesignerin, dem Gesicht der SORA auf den Modemessen und als umsichtige „Innenministerin“. Die sich mit ihren Kollektionen über 40 Jahre lang dem unerbittlichen Urteil der Einkäufer stellen musste.
„Jahr für Jahr musste im Frühjahr und im Herbst gleich zweimal das Abitur gemacht werden“, wie es der ehemalige kaufmännische Leiter Richard
Wenzler auf den Punkt bringt, der dort von 1970 bis 1980 für die Finanzen verantwortlich gezeichnet hat. Und das nicht nur auf den großen deutschen Modemessen in Hamburg, Düsseldorf und München. Sondern auch in Rom, New York und sonst wo auf dem Globus.
Von Haus aus Stenotypistin hat die ebenso kreative wie energiegeladene Margarethe Ulmer die gewaltige Doppeldauerbelastung aus Beruf und Großfamilie gemeistert. Mit ihrer schlagkräftigen Modellabteilung hat sie zweifellos Modegeschichte geschrieben und den Namen SORA – und damit auch den von Spaichingen – buchstäblich in die ganze Welt getragen.
Die Anfänge der SORA-Unternehmensgeschichte reichen in die unmittelbare Nachkriegszeit zurück, wo Manfred Ulmer als Verwalter bei der Textilfirma Manz und Haller angeheuert hatte, dort im Balgheimer Schloss. An dieser Branche hatte der Seiteneinsteiger Manfred Ulmer offensichtlich Gefallen gefunden und sich in der Folge mit einigen Maschinen seines alten Arbeitgebers selbständig gemacht. Gründerzelle war das alte „Rössle“in Mahlstetten, wo in bescheidenstem Rahmen begonnen wurde.
Die Geschäfte liefen offensichtlich besser als erwartet, wozu auch die französischen Repassiermaschinen beigetragen haben, mit denen man Seidenstrumpfhosen reparieren konnte. So wurde schon bald eine erste Holzbaracke in der Oberen Bahnhofstraße 19 in Spaichingen errichtet, auf dem späteren Firmenareal. Der folgte 1954 ein erster Backsteinbau und Ende der 50er-Jahre das „Hochhaus“für die Modell-Abteilung, die Finanzen und die Verwaltung. An die Anfänge dieses späteren Kleiderwerks erinnert heute an Ort und Stelle noch das stolze Firmenschild, weil das alte Gebäude 2006 abbrannte und in der Folge auch das Hochhaus abgerissen wurde. Erhalten blieb nur der anfangs der 80er Jahre fertiggestellte futuristische Anbau zur Präsentation der neuen Kollektionen.
Dieser neunbeinige Stelzenbau mutet fast an wie eine Mondlandefähre, die längst ausgedient hat und doch noch stumm vom Stolz einstiger Pioniertage zeugt, als man nach den Sternen am Modehimmel griff. In der TV-Kultserie Denver-Clan trugen die Stars Joan Collins und Linda Evans SORA-Kleider. Und unter dem Label Paloma Picasso wurde eine eigene Blusenserie aufgelegt.