Amerika in Aufruhr
Bei den Ausschreitungen in den USA entlädt sich der Frust über die soziale Ungleichheit
Die USA kommen nicht zur Ruhe: Nach dem Tod des Afroamerikaners George Floyd bei einem brutalen Polizeieinsatz in Minneapolis halten die Proteste gegen Polizeigewalt, Brutalität und Rassismus an (Foto: Ryan C. Hermens/Lexington Herald-Leader/AP/dpa). In vielen Großstädten, auch in New York, schlugen die Proteste wieder in Ausschreitungen um. Erneut kam es zu Plünderungen. Auch Journalisten wurden angegriffen, unter anderem in Minneapolis ein deutsches TV-Team.
Es war im Jahr 1966, als der afroamerikanische Bürgerrechtler Martin Luther King im Fernsehen erklärte, die Randale sei die Sprache derer, die sich anders kein Gehör verschaffen könnten. Wie aktuell der Satz ist, zeigt die Eskalation der Proteste, die mit friedlichen Demonstrationen in Minneapolis begannen und die nun, ausgenutzt von gewalttätigen Trittbrettfahrern, die gesamten USA erfasst haben.
Acht Minuten und 46 Sekunden drückte ein Polizist dem in Handschellen am Boden liegenden George Floyd das Knie auf den Hals, auch dann noch, als der sich schon nicht mehr regte. Ein Video dokumentierte all das – Floyds verzweifeltes Flehen, die Kaltblütigkeit seines Peinigers, die Appelle von Passanten, die den Officer Derek Chauvin aufforderten, endlich aufzuhören.
Dennoch nahm die örtliche Polizeiführung die vier beteiligten Beamten zunächst in Schutz. Weil Chauvin auf freiem Fuß blieb, kam die Protestwelle ins Rollen. Als er schließlich vier Tage nach der Tat angeklagt wurde, war es zu spät. Längst hatte sich in der Bevölkerung der Eindruck verfestigt, dass Seilschaften in blauen Uniformen selbst in diesem eindeutigen Fall mauern und die Institutionen allenfalls zögerlich bereit sind, die Täter zu bestrafen.
Das Gefühl schwarzer Amerikaner, Bürger zweiter Klasse zu sein, nicht wirklich erhört zu werden: Das Knie in Floyds Genick und das, was zunächst folgte, schien der aktuellste, krasseste Beweis dafür zu sein. So gesehen war die Szene unfassbarer Brutalität der sprichwörtliche Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Es ist vieles zusammengekommen in letzter Zeit. Die Pandemie hat Amerikas akutestes Gesellschaftsproblem, die wachsende soziale Ungleichheit, von Politologen seit mindestens drei Jahrzehnten thematisiert, schonungslos offengelegt.
Das Coronavirus trifft Menschen mit dunkler Haut, im statistischen Durchschnitt, härter als solche mit heller. Die Rate derer, die an Covid-19 sterben, ist unter Schwarzen dreimal so hoch wie unter Weißen. Es liegt daran, dass sie häufiger an Vorerkrankungen leiden, an Diabetes, Herzkrankheiten, Asthma oder Bluthochdruck. Es liegt an beengten Wohnverhältnissen und der Tatsache, dass sie überproportional vertreten sind in Berufen, denen man nun nicht im Homeoffice nachgehen kann, sei es an der Supermarktkasse oder hinter dem Lenkrad eines städtischen Busses. Das Konfliktpotenzial hat mit Corona nicht abgenommen. Wenn dann wieder und wieder bestätigt wird, wie hartnäckig sich die Vorurteile eines Denkens in Rasseschablonen halten, wird daraus ein Pulverfass.
Aufgabe des Präsidenten ist es, die Wogen zu glätten und Defizite zu benennen. Donald Trump tut das Gegenteil. Die Unruhen in Minneapolis beantwortete er mit einem Satz, der einst zum Sprachgebrauch rassistischer Südstaatler gehörte. „Wenn das Plündern beginnt, beginnt das Schießen“, twitterte Trump. Damit wiederholte der US-Präsident wortwörtlich, was George Wallace, über lange Jahre Gouverneur Alabamas und einer der verbohrtesten Anhänger der Rassentrennung, androhte, als er im Unruhejahr 1968 für das Weiße Haus kandidierte. Ob Trump wusste, wen er zitierte, ist nebensächlich. Er dürfte gewusst haben, wie viel Öl er mit solchen Worten ins Feuer gießt. Und wie er das Land einmal mehr spaltet.
Gewiss, nicht alles lässt sich damit erklären, dass Trump im Oval Office regiert. Im August 2014 – in Ferguson wurde der unbewaffnete schwarze Teenager Michael Brown von einem weißen Polizisten erschossen – hieß der Präsident Barack Obama. Die Bürgerrechtsinitiative „Black Lives Matter“, die nach Ferguson erst richtig in Schwung kam, war entstanden, weil auch die Ära Obama keineswegs das Ende brutaler Polizeiübergriffe bedeutete. Donald Trump allerdings setzt auf drakonische Härte. Er setzt auf die rhetorische Zuspitzung, um sich als Garant von „Law and Order“zu inszenieren.
Trump könnte nun darauf spekulieren, dass sich wiederholt, was 1968 geschah. Nach den tödlichen Schüssen auf Martin Luther King, den Prediger des gewaltlosen Widerstands, gingen in 34 amerikanischen Städten Geschäfte in Flammen auf.
Und im November wurde der Republikaner Richard Nixon, der Vertreter der harten Linie, zum Präsidenten gewählt.