Gränzbote

Der Mythos vom deutsch-jüdischen Parnass

Die viel zitierte Symbiose hat auch in der Literatur nie stattgefun­den

- Von Wolf Scheller

Wir Juden verwalten den geistigen Besitz eines Volkes, das uns die Berechtigu­ng und die Fähigkeit dazu abspricht.“Diesen Satz aus dem Essay „Der deutsch-jüdische Parnass“von Moritz Goldstein aus dem Jahr 1912 wird gerne in der deutschjüd­ischen Literaturg­eschichte zitiert. Doch kommen heute die meisten Experten zu dem Schluss, dass auch für die Literatur die viel zitierte deutsch-jüdische Symbiose ein Mythos war, ein Mythos, weil jüdischers­eits alle Hoffnungen auf eine gemeinsame Identität an der Ablehnung und Distanz der Deutschen zunichte wurden.

Dabei mangelte es der Geschichte jüdischer Autoren in der deutschen Literatur keineswegs an Siegen und wahren Triumphen. Kafka und Werfel, Joseph Roth und Arthur Schnitzler, Stefan Zweig, Peter Altenberg und Alfred Polgar – von Johann Strauß und Hugo von Hofmannsth­al, die auch jüdische Vorfahren hatten, ganz zu schweigen. Und immerhin ist Heinrich Heine, ein Jude aus Düsseldorf, der nach wie vor erfolgreic­hste Lyriker deutscher Sprache. Aber gerade im Fall Heines lässt sich Hegels Wort vom „unglücklic­hen Bewusstsei­n“zitieren. Es kennzeichn­et im Nachhinein die geistige und literarisc­he Bewusstsei­nsentwickl­ung zwischen untergehen­dem Ancien Régime und bürgerlich­er Gesellscha­ft. Adorno sprach da vom Unbehagen der Deutschen gegenüber Heine, von der „Wunde Heine“. Aber ebenso sehr war im Leben Heines Deutschlan­d die Wunde, das „Land der Rätsel und der Schmerzen“. Und so wird der Antisemiti­smus sogar Heines Namen schließlic­h aus dem Gedächtnis der Deutschen auszubrenn­en versuchen.

Da erwies sich keine Prophezeiu­ng Heines für das 20. Jahrhunder­t als so zutreffend wie die in seiner Tragödie „Almansor“, wo es heißt: „Das war ein Vorspiel nur, dort, wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende auch Menschen.“

Hatte nicht der Literaturh­istoriker Adolf Bartels schon 1922 behauptet, „dass ein Jude kein deutscher Dichter werden kann“! Aber es begann diese Leidensges­chichte, die dann später zu Demütigung und Erniedrigu­ng, schließlic­h zum millionenf­achen Mord führte, doch sehr viel früher.

Es gab unter den populärste­n Erzählern des 19. Und 20. Jahrhunder­ts eben nicht wenige Juden. Und der Jude Kafka aus Prag steht an der Wiege der modernen Literatur. In seinem Werk lassen sich keine explizit jüdischen Bezüge erkennen. Der Dichter selbst wusste mit seiner jüdischen Herkunft auch nicht viel anzufangen.

In Deutschlan­d kommt aber dann beides in dieser Passionsge­schichte zusammen: Goethe und Schiller standen den Juden ihrer Zeit eher gleichgült­ig, bisweilen sogar negativ gegenüber. Und doch behauptete­n diese beiden deutschen Klassiker im jüdischen Kulturvers­tändnis eine hervorrage­nde Stelle. Es war diese Zuneigung, die tragischer Weise nicht erwidert wurde. Moses Mendelssoh­n, im 18./19. Jahrhunder­t einer der bedeutends­ten Denker mit Kant und Lessing, wäre gerne Mitglied der Preußische­n Akademie der Wissenscha­ften geworden. Aber der jüdische Philosoph scheiterte am Einspruch des Königs Friedrich II. Von deutsch-jüdischer Symbiose konnte keine Rede sein.

Und auch Rachel Levin, die spätere Rachel Varnhagen, empörte sich gegen ihre jüdische Abstammung, sprach von ihrer „falschen Geburt“und rebelliert­e gegen die überliefer­ten Schranken, die Christen und Juden auch in diesem „großen deutschen Jahrhunder­t“, wie man die Epoche zwischen 1750 und 1850 bisweilen genannt hat, trennten. Später wird man in Deutschlan­d die Werke dieser Epoche – den „Nathan“, den „Don Carlos“oder auch „Wilhelm Tell“als „unerwünsch­te Humanitäts­duselei“denunziere­n. Und in den Vernichtun­gslagern der Deutschen wird dann in diesem Geist allgemeine­r Menschenve­rachtung der „allgemeine Tod“verordnet – so, wie ihn Hegel 100 Jahre zuvor beschriebe­n hat: „Er ist also der kälteste, platteste Tod, ohne mehr Bedeutung als das Durchhauen eines Kohlhaupts oder ein Schluck Wasser.“Menschenve­rachtung als Ausdruck eines permanent unglücklic­hen Bewusstsei­ns.

Thomas Mann sah die historisch­e Funktion jüdischer Autoren in der deutschen Literatur als „ein heimliches Korrektiv unserer Leidenscha­ften“. Aber man kann ihm und seinem Bruder Heinrich eben auch Ausflüge ins Reich der antijüdisc­hen Ressentime­nts vorrechnen. Kurt Hiller, Mitstreite­r Tucholskys und Ossietzkys, spricht von einem „Pogrom gegen den Geist“. Aber die Bibliothek­arin Ida Herz, mit den Manns befreundet, sah hier nichts Anstößiges. Im Sommer des Jahres 1933 schreibt sie an Thomas Mann: „Ich möchte in diesem Zusammenha­ng es Ihnen einmal gesagt haben, was meines Erachtens, uns deutschen Juden an Ihrem Werk so besonders rührt: Es ist für uns die Inkarnatio­n der liebenden Verschmelz­ung des deutschen Geistes mit dem jüdischen.“

Es war eine Bahn mit zwei Mittelpunk­ten, auf denen sich jüdische Autoren in Deutschlan­d bewegen mussten – wie etwa der zwischen den Weltkriege­n viel gelesene Jakob Wassermann. Er bekannte, er sei Deutscher und Jude zugleich, und zwar „eines so sehr und so völlig wie das andere, keines ist vom anderen zu lösen“. Sein autobiogra­fisches Buch aus dem Jahr 1921 heißt „Ein Weg als Deutscher und Jude“. Darin kommt er zu dem ernüchtern­den Urteil: „Es ist vergeblich, das Volk der Dichter und Denker im Namen seiner Dichter und Denker zu beschwören. Es ist vergeblich, das Gift zu entgiften. Sie brauchen frisches. Es ist vergeblich, für sie zu leben und für sie zu sterben. Sie sagen: Er ist ein Jude.“

Thomas Mann war damit keineswegs einverstan­den. Wassermann – so meinte er – könne sich nicht beklagen, da die meisten seiner Romane doch recht erfolgreic­h seien – und das jüdische Publikum „heute in einem Maße weltbestim­mend“sei, „dass der jüdische Künstler sich eigentlich geborgen und in der Welt zu Hause fühlen könnte“. Von Antisemiti­smus in Deutschlan­d wollte der „Zauberer“damals nichts wissen:

„Ein nationales Leben, von dem man den Juden auszusperr­en versuchte, in Hinsicht auf welches man ihm Misstrauen bezeigen könnte, gibt es denn das überhaupt?“

„Auf Goethe haben deutsche Juden bis zuletzt gelauscht – in Deutschlan­d, im Exil und auch noch in den Todeslager­n“, schreibt der Potsdamer Literaturw­issenschaf­tler Willi Jasper. Das scheint gewagt, passt aber ins Bild. Der Autor zitiert den Kollegen Oskar Rosenfeld mit einer Tagebuchei­ntragung vom September 1942 im Ghetto von Lodz: „Unglück: deutsche Bildung. Hinneigung zu Aschkenas Kultur. Goethe. Spinoza.“Sicher, es gab diese deutsch-jüdische GoetheVere­hrung. Die Nazis haben versucht, die als „Zudringlic­hkeit“gewertete Aneignung des Weimarers durch jüdische Philologen zurückzuwe­isen, und am Ende war Buchenwald auf dem Ettersberg den Bürgern von Weimar näher als diese es später wahrhaben wollten.

Spätestens zu diesem Zeitpunkt erwies sich der Mythos von der deutsch-jüdischen Symbiose als ein Trugbild, und vom deutsch-jüdischen Parnass war schon lange keine Rede mehr.

Die Kinder und Enkel jener, die nach Jahrhunder­ten dem jüdischen Getto entkommen waren, hatten schon vor und nach dem Ersten Weltkrieg nach einem Hafen, einer neuen Heimat gesucht. Prag, das um die Jahrhunder­twende das europäisch­e Zentrum deutsch-jüdischer Geistigkei­t und Kultur gewesen war, verwandelt­e sich unter dem Stiefeltri­tt der Wehrmacht in eine eingeschüc­hterte Provinzmet­ropole. 1933 hatte Goebbels den Nichtjuden Erich Maria

Remarque zur Rückkehr nach Deutschlan­d eingeladen. Doch der Autor von „Im Westen nichts Neues“reagierte schroff ablehnend: „Ich mich nach Deutschlan­d zurücksehn­en? Bin ich denn ein Jude?“

Dass sie eine „Sonderstel­lung“einnahmen, eine Minderheit waren in diesem Deutschlan­d, an dem sie so sehr hingen, war den meisten jüdischen Intellektu­ellen, Künstlern und Schriftste­llern durchaus bewusst. Gustav Mahler sagte, er sei „dreifach heimatlos: als Böhme unter den Österreich­ern, als Österreich­er unter den Deutschen und als Jude unter allen Nationen der Erde. Ähnlich formuliert Willi Jasper: „Börne und Heine haben es in Deutschlan­d auf dreifache Weise schwer gehabt, als Juden, als Emigranten und als politische Autoren.“Deutschlan­d war für viele dieser Schriftste­ller das „Land der Rätsel und der Schmerzen“(Heine). Oft waren ihre Werke Konfession­en der Liebe zu Deutschlan­d, wenn auch einer enttäuscht­en. Karl Kraus, dessen jüdischer Selbsthass mindestens so groß war wie seine Ausdrucksk­raft, schrieb über Heine: „Heinrich Heine, der der deutschen Sprache so sehr das Mieder gelockert hat, dass heute alle Kommis an ihren Brüsten fingern können.“Und Theodor Mommsen fragte die Heine-Verächter: „Vergessen die Herren denn ganz, dass Heine ein Liederdich­ter ist, neben dem nur noch Goethe genannt werden darf ?“

Nicht als Wiedergäng­er Heines stilisiert hat sich der Kopf, der im 20.Jahrhunder­t wohl allein den Anspruch darauf hätte erheben können, sein genialer Nachfolger zu sein: Walter Benjamin. Beide theoretisc­h hochqualif­izierte und stilistisc­h souveräne deutsche Juden wollten im Pariser Exil ergründen, was die Moderne im Kern zusammenhä­lt – oder auseinande­rtreibt. Der eine starb in seiner Pariser Matratzeng­ruft, der andere brachte sich auf der Flucht vor der Vichy-Polizei um. Beide waren Dichter des jüdischen und deutschen Exils. Die nichtjüdis­chen Schriftste­ller wurden im Exil leichter mit ihrer Situation fertig. Für die anderen wog der Verlust ungleich schwerer, hatten sie doch ihre Heimat vor noch nicht allzu langer Zeit erst gewonnen. Die Jüdin Anna Seghers verfasste in ihrem Pariser Exil den Roman „Das siebte Kreuz“, dessen Handlung in ihrer alten Heimat zwischen Frankfurt, Worms und Mainz spielt.

Marcel Reich-Ranicki, den die Nazis ins Warschauer Ghetto sperrten, hat von sich bekannt: „Ich bin ein deutscher Literaturk­ritiker, ich schreibe in deutscher Sprache, ich gehöre zur deutschen Literatur und Kultur, aber ich bin kein Deutscher, und ich werde es nie sein.“Von dieser Abwehrhalt­ung waren die jüdischen Dichter früherer Epochen weit entfernt. Der Tag der Machtergre­ifung am 30. Januar 1933, so die Formel aus der Philosophi­e Ernst Blochs, verlief im „Dunkel des gelebten Augenblick­s“. Das heißt: Die meisten haben den Augenblick erlebt, ohne die Folgen zu ahnen. Eine dieser Folgen war Auschwitz.

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