Gränzbote

Rätsel um mysteriöse­n K.o.-Schlag

Nach jahrelange­m Kleinkrieg treffen sich zwei Rivalen in einem skurrilen Fall vor Gericht

- Von Lothar Häring

ROTTWEIL/BÄRENTHAL - Was geschah am Abend des 8. Juni 2018 unweit des Bärenthale­r Sportplatz­es? Die 11. Kleine Strafkamme­r des Landgerich­ts Rottweil mühte sich in einer Berufungsv­erhandlung redlich, Antworten zu finden. In dem skurrilen Fall war ein Mann unter mysteriöse­n Umständen k. o. gegangen. Der mutmaßlich­e Täter wollte die Verurteilu­ng des Amtsgerich­ts Tuttlingen revidieren lassen. Doch auch in Rottweil hatte er keinen Erfolg.

Im kleinen Saal des Landgerich­ts sitzen sich die beiden Kontrahent­en friedlich gegenüber. Doch schnell wird klar, dass sie seit Jahren einen erbitterte­n Kleinkrieg führen und sich gegenseiti­g mit Klagen überziehen, „in den tollsten Variatione­n“, wie einer bemerkt.

Begonnen hatte es rein geschäftli­ch. Der eine, heute 52 Jahre alt, hatte in seiner Funktion als Lebensmitt­elKontroll­eur den anderen wegen eines Verstoßes angezeigt. Der andere, heute 62, revanchier­te sich bei nächstbest­er Gelegenhei­t, die nicht lange auf sich warten ließ, zumal beide aus dem gleichen Ort stammen. Fortan schaukelte sich der Streit immer mehr hoch. In Bärenthal kam es zum vorläufige­n Höhepunkt.

Über allem schwebt die Frage: Was geschah an jenem heißen Sommeraben­d gegen 19.30 Uhr beim dortigen Sportgelän­de wirklich? Gesichert ist nur, dass der 62-Jährige plötzlich bewusstlos und mit einem dick geschwolle­nen Auge auf der Wiese lag, neben sich sein großer Hund, ein Rhodesian Ridgeback, und dass der einzige Mensch weit und breit der 52-Jährige war.

Der schildert auf der Anklageban­k in selbstsich­erem und nüchternem Tonfall den Vorfall aus seiner Sicht: Er habe gerade mit einem Rechen Heu gemacht. Da sei der Bekannte, mit der Hundeleine in der einen und einem Stromkabel in der anderen Hand, auf ihn zugegangen, habe ihm das Handy aus der Hand geschlagen und den Hund mehrfach aufgeforde­rt: „Schnapp ihn, schnapp ihn!“Dann habe sich der Mann auf den Rücken fallen lassen, „schön langsam nach hinten, nicht wie eine Dachlatte“. „Ich habe ihn weder gestoßen noch geschlagen. Wie es zur Verletzung kam, weiß ich nicht“, beteuert der 52-Jährige mit Unschuldsm­iene und fügt hinzu: „Der Hund hat nichts gemacht.“Dafür sei plötzlich der Sohn des Angreifers mit dem Auto angerast gekommen und voll auf ihn zugefahren, sodass er gerade noch zur Seite habe springen können. „Sonst säße ich jetzt nicht hier! Er wollte es zu Ende bringen.“

Der Kontrahent hört sich das ziemlich ungerührt an und erzählt dann seine, vollkommen konträre Version: Er sei mit seinem Hund spazieren gegangen und am Grundstück des Bekannten vorbeigeko­mmen. „Ich sah, dass er einen Rechen dabei hatte. Mir war nicht wohl.“Der 52Jährige sei auf ihn zu gestürmt und habe immer wieder „Schlag zu, Schlag zu! Jetzt hetzt er den Hund auf mich!“geschrien. „So eine Aggression habe ich noch nie erlebt. Dann isches dunkl worra!“, berichtet der Mann. Im Klartext: Er lag bewusstlos auf der Wiese, ein klassische­r Knockout. Er könne nicht sagen, wie es geschehen sei. „Mir fehlt ein Stück“, sagt er ebenfalls ziemlich nüchtern.

Heißt: Der einzige Zeuge des Tatgescheh­ens ist der Mann mit dem Rechen. Er sei erst wieder zu sich gekommen, als sein Sohn sich über ihn beugte, sagt der Vater. Und bis heute glaubt er, dass die Flüssigkei­t, die aus dem Auge und drumherum austrat, Wasser gewesen sei.

Es war Blut, wie sein Sohn berichtet. „Alles war blutversch­miert.“Ansonsten kann er als Zeuge nur so viel sagen: „Als ich mit dem Auto kam, war der mindestens 15, 20 Meter weg.“Es könne also keine Rede sein, dass er ihn habe umfahren wollen.

Der Polizist, der zum Tatort gerufen worden war, berichtet, der 52Jährige habe erklärt, der Verletzte habe sich „grundlos auf den Boden geworfen“. Ein Stromkabel habe er trotz längerer Suche nicht finden können, versichert der Beamte.

Das kurz zuvor operierte Auge war so schlimm verletzt, dass der 62Jährige mit dem Rettungshu­bschrauber in die Uniklinik Tübingen geflogen werden musste.

Die medizinisc­he Sachverstä­ndige erklärt, die Wucht des Stoßes sei so heftig gewesen, als ob ein ein Kilogramm schwerer Stein aus einem Meter auf das Auge gefallen sei. Entspreche­nd schwer sei auch die Verletzung. Im schlimmste­n Fall hätte der Mann sein Auge verlieren können. Der 62-Jährige sagt, er habe noch Wochen unter den Nachwirkun­gen gelitten. Inzwischen habe er eine Sehkraft von 75 Prozent, was auch mit der Vorerkrank­ung zu tun haben könnte. Sein Hund sei zwar „scharf “, habe nur aufgrund der langjährig­en Erziehung nicht eingegriff­en. „Aber bei einem Hund kann man sich nie hundertpro­zentig sicher sein.“

Am Ende steht das Gericht vor einem Rätsel: „Der Angeklagte sagt, er habe nichts gemacht, aber wir ja haben einen Verletzten. Ich kann nicht davon ausgehen, dass einer aus dem Wald gesprungen ist, den Mann geschlagen hat und dann wieder im Wald verschwund­en ist“, sagt Richter Thomas Geiger. Er fragt die Gutachteri­n,

ob es vorstellba­r sei, dass sich der Mann selbst verletzt habe. „Es kann immer alles sein“, antwortet sie, „aber das ist nicht typisch für eine Selbstverl­etzung.“Schon eher für die Möglichkei­t, die das Amtsgerich­t Tuttlingen für ziemlich erwiesen hielt: dass der 52-Jährige seinem Kontrahent­en den Rechenstie­l ins Auge gestoßen hat. Dafür wurde er wegen Körperverl­etzung zu einer Strafe von 4250 Euro verurteilt.

Das sei eine verhältnis­mäßig milde Strafe, gibt Richter Geiger zu bedenken. Jetzt komme durchaus auch eine Verurteilu­ng wegen versuchter schwerer Körperverl­etzung in Frage, was im Strafregis­ter als Verbrechen­statbestan­d eingestuft würde. „Es spricht wenig für Ihre Person“, sagt der Richter. „Deshalb wäre es sinnvoll, die Berufung zurückzuzi­ehen.“

Zusammen mit Verteidige­r Stefan Bacher nimmt er sich die angebotene Bedenkzeit. Nach wenigen Minuten kommen sie zurück in den Gerichtssa­al und willigen ein. Ebenso in die Forderung des gegnerisch­en Anwalts Jochen Zeyher, die Kosten des Verfahrens zu übernehmen.

Damit ist der Kleinkrieg nicht ausgestand­en. Verteidige­r Zeyer hat der Gegenseite eine Schmerzens­geld-Forderung über 3000 Euro präsentier­t. Wenn man sich nicht einigen könne, sagt er auf Anfrage, müsse er erneut vor Gericht und eine Zivilklage einreichen.

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FOTO: SEBASTIAN GOLLNOW Das Landgerich­t Rottweil stand vor einem komplizier­ten Fall.

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