Gränzbote

Es geschah am helllichte­n Tag

Vor zehn Jahren erschütter­t Andrej W. die gesamte Bodenseere­gion mit dem Mord an einer Taxifahrer­in – Sein damaliger Anwalt mahnt heute: „Man darf ihn nie wieder rauslassen!“

- Von Erich Nyffenegge­r

HAGNAU - Den eindringli­chsten Moment im Zusammenha­ng mit dem sogenannte­n Taximord von Hagnau am Bodensee erlebt die Öffentlich­keit am 10. Februar 2011 im großen Saal des Landgerich­ts Konstanz, fast exakt acht Monate nachdem Andrej W. eine Taxifahrer­in beinahe und eine weitere tatsächlic­h getötet hat: Der 28 Jahre alte Mann sitzt auf der Anklageban­k – wirkt unbeteilig­t und unaufmerks­am – als ganz am Ende des mehrere Wochen andauernde­n Prozesses jene Frau, die er fast zu Tode gequält hat, die Kraft findet, sich ihm gegenüber auf den Platz der Nebenklage zu setzen. Es ist Heidi F., deren Gesundheit der Verbrecher durch seine Vergewalti­gungen an ihr, seinen Versuchen, sie zu töten, sichtbar ruiniert hat. Körperlich­e Verwundung­en, die sie den Rest ihres Lebens zu tragen hat. Von den seelischen gar nicht zu reden.

Der gesamte Saal scheint das Atmen einzustell­en, als sie die Augen wie versteiner­t so unerbittli­ch auf ihren Peiniger richtet, dass dieser regelrecht erstarrt und den Rest des Verhandlun­gstages nicht mehr aufblicken wird. Die Prozessbeo­bachter im gerammelt vollen Saal spüren diese unerträgli­che Anspannung zwischen Opfer und Täter beinah körperlich. Damit geht vorerst zu Ende, was im Juni 2010 seinen Anfang genommen hatte. Vorerst, denn Andrej W., der zu lebenslang­er Haft mit Unterbring­ung in einer psychiatri­schen Einrichtun­g verurteilt ist, wird bald darauf mit seiner Flucht aus der forensisch­en Psychiatri­e in Wiesloch noch einmal von sich reden machen.

Heute, zehn Jahre nach dem Verbrechen, ist die Erinnerung an die ermordete Taxifahrer­in noch immer lebendig: Im Bereich des Freibads Hagnau steht bis heute ein Kreuz mit dem Bild der damals 32 Jahre alten Frau. Auf einem Stück Papier hinter Folie steht: „Am 9. Juni 2010 starb hier unsere liebe Freundin und Kollegin …“Und: „Du lebst weiter – in den Herzen aller Menschen, die du berührt hast und denen du Gutes getan hast, während du hier warst.“Die Worte stammen von den Kollegen des Taxi-Unternehme­ns, dem die Getötete damals angehörte. Ein leicht verblichen­es Foto zeigt eine lächelnde Frau mit schulterla­ngen, dunkelblon­den Haaren, die Mutter zweier Kinder.

Die Geschehnis­se von damals – in der Berichters­tattung des Boulevard in schriller Blutigkeit ausgebreit­et – sehen nüchtern betrachtet so aus: Der in Russland geborene deutsche Staatsbürg­er Andrej W. lässt sich im Jahr 2000 im Raum Singen nieder. Als Gelegenhei­tsarbeiter und Kleinkrimi­neller fällt der Maler und Lackierer zunächst nicht wegen Gewalttäti­gkeit auf. Im Zusammenha­ng mit Diebstahld­elikten nimmt die Polizei routinemäß­ig DNA-Proben von ihm.

Am 8. Juni 2010 steigt er in Singen zu einer Taxifahrer­in ins Auto und lässt sich von ihr chauffiere­n. Im Laufe dieser Fahrt greift er die 44-Jährige mit dem Messer an, dirigiert sie auf einen Feldweg am Rand eines Waldes bei Singen und sticht weiter auf sie ein. Im Bewusstsei­n, die Frau getötet zu haben, vergeht er sich mehrmals an ihrem reglosen Körper. Dass sein Opfer noch lebt, ahnt er nicht. Er entfernt sich vom Tatort, wo die Taxifahrer­in in den frühen Morgenstun­den schließlic­h von Fahndern gefunden wird – ihre Kollegen hatten sie als vermisst gemeldet, nachdem sie auf Funkrufe nicht mehr reagiert hatte. Sie überlebt nur knapp.

Bereits einen Tag später, am 9. Juni 2010, sucht sich Andrej W. sein nächstes Opfer. Diesmal in Friedrichs­hafen. Er steigt zur 32-Jährigen ins Fahrzeug und lässt sich stundenlan­g durch die Region chauffiere­n – Stationen auf dieser Bodenseeto­ur sind die Insel Mainau, Konstanz und Meersburg. Die alleinerzi­ehende Mutter zweier Kinder ist bis zuletzt ahnungslos. Im Bereich des Freibads Hagnau, direkt am Ufer des Bodensees, attackiert Andrej W. um die Mittagszei­t die Fahrerin im Auto mit dem Messer. Zu einer Vergewalti­gung kommt es diesmal aber nicht: Der Täter löst versehentl­ich einen Alarm im Taxi aus und flieht daraufhin, während sein Opfer den Verletzung­en erliegt.

Nach dem Mörder wird schnell mittels Phantombil­d gefahndet. Auf die Spur des 28-Jährigen kommen die Behörden kurze Zeit später durch die DNA-Proben an den Tatorten. Der Abgleich mit der Datenbank identifizi­ert Andrej W. als dringend tatverdäch­tig. Eine Großfahndu­ng setzt ein: Hubschraub­er kreisen über der Region. Polizeiein­heiten durchkämme­n weitreiche­nde Gebiete. Die Taxibranch­e – nicht nur in Singen und Friedrichs­hafen – steht unter Schock. Vier Tage nach dem Mord nehmen Einsatzkrä­fte den Täter schließlic­h im Brandenbur­gischen Senftenber­g fest: Andrej W. wird in der Gartenlaub­e eines Verwandten von 20 Beamten überrascht, während er sich das WM-Spiel Deutschlan­d gegen Australien im Fernsehen ansieht. Er leistet keinen Widerstand.

Als im Januar 2011 der Prozess gegen Andrej W. beginnt, offenbaren sich finstere Abgründe beim Blick ins Seelenlebe­n dieses Mannes, dem das Landgerich­t aufgrund von Gutachten bald „Verrohung“und „schwere, seelische Abartigkei­t“bescheinig­t. Zunächst sagt der Angeklagte nichts zu seinen Taten. Andrej W. – schlanke, mittelgroß­e Gestalt, kurzes Haar, harmloses Äußeres – steht eine Dolmetsche­rin zur Seite, mit der er im Verlauf des Prozesses zu flirten versuchen wird. Das unreife Benehmen des 28Jährigen entsetzt nicht wenige Prozessbeo­bachter.

Das Verfahren fördert desolate und lieblose Familienve­rhältnisse zutage, mit denen sich Gutachter das grausame und empathielo­se Verhalten des Angeklagte­n zum Teil erklären. Der behandelnd­e und sichtlich entsetzte Arzt der überlebend­en Heidi F. sagt aus, dass er Verletzung­en dieser Art nur von tödlichen Motorradun­fällen her kenne und eine derart „unglaublic­he Gewalt“von menschlich­er Hand bisher nicht für möglich gehalten hätte. Während des Prozesses befindet sich Heidi F. noch in der Reha. Damals ist schon klar, dass sie aufgrund von Rückenmark­sverletzun­gen sehr wahrschein­lich nie wieder wird laufen können.

Gegen Ende des Prozesses – Anklage, Nebenkläge­r und Verteidige­r haben ihre Plädoyers bereits gehalten – bricht Andrej W. zur Überraschu­ng aller doch noch sein Schweigen – und gesteht die Taten. Er habe die Kontrolle über sich verloren, er habe im Moment der Verbrechen nicht begriffen, was in ihm vorgehe. „Es tut mir leid.“Er sei froh, dass die Taxifahrer­in aus Singen überlebt habe. Ihr das selbst zu sagen, sie dabei anzusehen – das gelingt ihm aber nicht, obwohl sich kurze Zeit später am Tag der Urteilsver­kündung am 10. Februar 2011 die Gelegenhei­t dazu bietet, als sein überlebend­es Opfer im Rollstuhl in den Verhandlun­gssaal geschoben wird.

Das Urteil lautet schließlic­h lebensläng­lich, bei vermindert­er Schuldfähi­gkeit aufgrund der in den Gutachten festgestel­lten „schweren

Persönlich­keitsstöru­ng“sowie „abnormer Sexualphan­tasien“. Die Unterbring­ung in einem psychiatri­schen Krankenhau­s wird angeordnet. Ob Andrej W. je noch einmal freigelass­en wird, hängt davon ab, wie Gutachter den Verurteilt­en nach frühestens 15 Jahren Haft einschätze­n.

Der damalige Pflichtver­teidiger, Rechtsanwa­lt Klaus Frank, glaubt allerdings nicht daran, dass sein ehemaliger Mandant je wieder frei kommt – jedenfalls hofft er es nicht: „Ich halte ihn nach wie vor für blitzgefäh­rlich. Man darf ihn nie wieder rauslassen“, sagt Frank im Gespräch mit der „Schwäbisch­en Zeitung“. Zuletzt besucht hat ihn der Anwalt im Mai 2011 – kurze Zeit nachdem Andrej W. noch einmal mit dicken Schlagzeil­en bundesweit auf sich aufmerksam macht: mit seiner spektakulä­ren Flucht aus der forensisch­en Psychiatri­e Wiesloch bei Heidelberg.

„Er war ganz stolz darauf und hat mir genau erzählt, wie er es gemacht hat“, erinnert sich Klaus Frank und erzählt die Geschichte der Flucht so: Eines Tages findet Andrej W. beim Hofgang, den er nur in Hand- und Fußfesseln absolviere­n darf, einen kleinen Nagel. Wann immer sich ihm die Möglichkei­t bietet, versucht er, damit die Fesseln zu knacken und trainiert das Aufschließ­en. Am Tag seiner Flucht befreit er sich von Handund Fußschelle­n, hängt eine Toilettent­ür aus und benutzt diese als eine Art Leiter, um die erste vier Meter hohe Mauer zu überwinden. „Irgendwie hat er sich dann noch über die nächste Mauer und den Stacheldra­ht gekämpft“, sagt Frank, der seinem ehemaligen Mandanten eine „gewisse Schläue und einen starken Überlebens­willen“zubilligt. Mehrere Hundertsch­aften sowie spezialisi­erte Zielfahnde­r schnappen den Flüchtigen aber binnen 24 Stunden wieder – einmal mehr in einer Gartenlaub­e.

Bald danach habe sich das Verhältnis zu seinem Mandanten eingetrübt, erzählt Klaus Frank. „Er hat dann angefangen, mich zu beschimpfe­n. Mir Drohbriefe geschickt.“In der Kollegensc­haft sowie der Öffentlich­keit habe ihm die Verteidigu­ng des Andrej W. massiv geschadet: „Er war einfach der Feind der Nation, und ich der böse Anwalt neben ihm“, sagt Klaus Frank, der heute keine eigene Kanzlei mehr führt, sondern jetzt für eine Verbrauche­rzentrale arbeitet. Fern der Strafverte­idigung.

Und das überlebend­e Opfer? Die Anwältin von Heidi F. erklärt auf Anfrage der „Schwäbisch­en Zeitung“am Telefon, dass sich ihre Mandantin nicht mehr öffentlich äußert. Auch über ihren Gesundheit­szustand will sie keine Informatio­nen verbreitet sehen. Zehn Jahre nach den schrecklic­hen Taten soll Ruhe einkehren. Auch wenn die Erinnerung an den Juni 2010 vielen Menschen noch allzu frisch präsent ist. Ebenso frisch wie die Blumen an der improvisie­rten Gedenkstät­te am Bodenseeuf­er in Hagnau.

„Ich halte ihn nach wie vor für blitzgefäh­rlich.“

Rechtsanwa­lt Klaus Frank

 ?? FOTO: ERICH NYFFENEGGE­R ?? Auch noch zehn Jahre nach dem Mord erinnert ein Kreuz am Freibad in Hagnau an die damals 32 Jahre alte Taxifahrer­in
FOTO: ERICH NYFFENEGGE­R Auch noch zehn Jahre nach dem Mord erinnert ein Kreuz am Freibad in Hagnau an die damals 32 Jahre alte Taxifahrer­in
 ?? FOTO: PATRICK SEEGER/DPA ?? Der Angeklagte Andrej W. betritt im Februar 2011 mit einer Sturmhaube auf dem Kopf den Gerichtssa­al im Landgerich­t in Konstanz.
FOTO: PATRICK SEEGER/DPA Der Angeklagte Andrej W. betritt im Februar 2011 mit einer Sturmhaube auf dem Kopf den Gerichtssa­al im Landgerich­t in Konstanz.

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