Gränzbote

Stunde der Wahrheit

- Von Frank Herrmann politik@schwaebisc­he.de

Ist es ein Wendepunkt? Hat sie den politische­n Wandel zur Folge, die brutale Kaltblütig­keit, mit der ein Polizist, der darauf vertraute, dass kein Vorgesetzt­er ihn zur Rechenscha­ft ziehen würde, dem wehrlos am Boden liegenden George Floyd die Luft zum Atmen nahm? Ist der Schock nachhaltig genug, um ein Land, das acht Jahre nach der Wahl seines ersten afroamerik­anischen Präsidente­n Barack Obama mit Donald Trump das hundertpro­zentige Kontrastpr­ogramm ins Weiße Haus delegierte, erneut die Richtung wechseln zu lassen?

Antworten wird das Votum im November geben, mehr als eine Momentaufn­ahme ist im Juni nicht möglich. Wer sich an die falschen Prognosen von 2016 erinnert, wird sich hüten, schon jetzt den Abgesang auf den Amtsinhabe­r anzustimme­n. Dennoch, manches lässt darauf schließen, dass Trump, so sehr er wohl auf das eine Drittel der Wählerscha­ft bauen kann, das mit ihm durch dick und dünn geht, den Draht zur Mitte der Gesellscha­ft verliert.

Umfragen zufolge halten fast zwei Drittel der Amerikaner die Proteste, die Floyds Tod folgten, für legitime Äußerungen berechtigt­en Unmuts. Ein Präsident, der Demonstran­ten mit Terroriste­n vergleicht und Soldaten einzusetze­n droht, befindet sich im Konflikt mit der klaren Mehrheit seiner Landsleute. Das Video aus Minneapoli­s, der Anblick eines Polizisten, der mit Händen in den Hosentasch­en auf dem Hals seines Opfers kniet, hat das weiße Amerika wohl noch mehr schockiert als das schwarze. Afroamerik­aner wissen aus leidvoller Erfahrung, wozu Beamte in Uniform fähig sind. Weißen hat es die Augen geöffnet. Bedauern zu äußern und schnell zur Tagesordnu­ng überzugehe­n, das kam für viele diesmal nicht infrage. Zumindest für den Moment sieht es so aus, als wäre dies die Stunde der Wahrheit. Als beschäftig­te sich Amerika endlich ernsthaft mit seinem rassistisc­hen Erbe, mit Systemfehl­ern, mit tief verwurzelt­er Ungerechti­gkeit.

Gut möglich, dass der Diskurs eine Langzeitwi­rkung entfaltet – und in den nächsten Monaten auch das Duell ums Weiße Haus bestimmt.

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