Gränzbote

Kleiner Stich, großes Leid Borreliose und FSME – zwei Krankheite­n, ein Überträger

Nach dem milden Winter droht eine Zeckenplag­e – Was es bedeutet, schwer an Borreliose zu erkranken, schildert eine Betroffene

- Von Simone Haefele

RAVENSBURG - Sie schaffen es wegen Corona nicht in die Schlagzeil­en, doch die Horrormeld­ungen über Zecken überschlag­en sich derzeit: Nach dem milden Winter prognostiz­ieren unterschie­dliche Experten ein Zecken-Rekordjahr. In Ostbayern habe man in 90 Minuten 600 Zecken eingesamme­lt. Der Kollege vom Bodensee, passionier­ter Jäger, berichtet davon, sich bereits Anfang März die erste von vielen Zecken eingefange­n zu haben. Schon jetzt verzeichne­t das Robert-Koch-Institut eine Zunahme von zehn Prozent bei den ausschließ­lich durch Zecken übertragba­ren Borreliose-Erkrankung­en im Vergleich zu den ersten 22 Kalenderwo­chen des Vorjahres. Und jetzt bedroht uns auch noch die neue Riesenzeck­e Hyalomma, die ursprüngli­ch aus Nordafrika sowie Südeuropa stammt und das tödliche Fleckfiebe­r übertragen kann.

Anna Freitag öffnet mit einem strahlende­n Lächeln die Tür ihrer Wohnung nahe Ravensburg, obwohl ihr Schicksal perfekt in die Reihe dieser Schreckens­nachrichte­n passt. Die 37-Jährige trägt eine warme Jogginghos­e und einen bequemen Wollpulli, obwohl es draußen über 25 Grad hat. „Mir ist ständig kalt“, erzählt die hübsche, aber sehr schlanke und blasse Frau mit den langen, dunkelbrau­nen Haaren und kuschelt sich gleich wieder ins große Bett, in dem sie fünf Decken hat – nachts zusätzlich eine Wärmflasch­e – und das mitten im Wohnzimmer steht. Ein längeres Gespräch zu führen ist ihr heute nur im Liegen möglich. Überhaupt kann sie derzeit höchstens ein bis zwei Stunden auf den Beinen sein, dann fällt sie völlig erschöpft wieder in die Kissen. Anna hat Borreliose. Und das schon seit 16 Jahren.

Ihr Gesundheit­szustand glich jahrelang einer Berg- und Talfahrt. Mal ging es ihr so gut, dass sie weiterstud­ieren, sogar als Aushilfsle­hrerin zeitweise arbeiten konnte. Mal waren die Schmerzen und die Erschöpfun­g jedoch so stark, dass sie das Bett fast gar nicht verlassen konnte. „Seit einem Jahr aber werden die Wellentäle­r gefühlt immer tiefer und länger“, erzählt sie. Zu den üblichen Gelenkschm­erzen, dem Tinnitus, den Herzproble­men, den vielen Nahrungsmi­ttelunvert­räglichkei­ten und der permanente­n Müdigkeit gesellt sich jetzt auch noch eine ausgeprägt­e Immunschwä­che, die häufige Atem- und Harnwegsin­fektionen nach sich zieht.

Anna ist eine junge Studentin mit Bestnoten, als sie die ersten Anzeichen bemerkt. Vor allem dieses ständige Erschöpfts­ein macht ihr schwer zu schaffen. Und weil der Großvater ähnliche Symptome hat, keimt in ihr der Verdacht auf, wie er auch an Borreliose erkrankt zu sein, obwohl sie sich an keinen Zeckenstic­h erinnern kann. Das teilt sie dem Arzt mit, der diesen Hinweis jedoch ignoriert. Also macht Anna weiter, kämpft sich trotz unendliche­r Müdigkeit, Lähmungser­scheinunge­n, Kopfschmer­zen, Ohrenpfeif­en und ständigem Unwohlsein durchs Studium. Als dann endlich ein Test gemacht wird und tatsächlic­h Borreliose-Antikörper festgestel­lt werden, wird sie mehrere Wochen lang mit Antibiotik­a-Infusionen therapiert. Danach geht es ihr auch eine Zeitlang besser, doch die Symptome kehren zurück. Weitere Antibiosen bringen keine Besserung mehr. An ein Referendar­iat ist nicht zu denken. Eine Odyssee durch Arztpraxen, Kliniken und psychosoma­tische Reha-Einrichtun­gen beginnt. Ohne Erfolg. Im Gegenteil: Die körperlich­en Gebrechen verstärken sich. Die Träume, einmal als Lehrerin zu arbeiten, viele Kinder zu bekommen, Bücher zu schreiben und Theater zu spielen, platzen. Ängste, Selbstzwei­fel und Depression­en schleichen sich ein.

Zecken können mehrere Krankheite­n übertragen, die häufigsten sind FSME und Lyme-Borreliose, so der korrekte medizinisc­he Ausdruck. Bei Borreliose handelt es sich um eine bakteriell­e Infektion, die üblicherwe­ise mit Antibiotik­a behandelt wird. Die Krankheit kann verschiede­ne Organe betreffen, insbesonde­re die Haut, das Nervensyst­em und die Gelenke, auch Herzbeschw­erden sind bekannt. Nicht alle Zecken tragen das Bakterium in sich. Nach Angaben des Robert-Koch-Instituts entwickeln nur rund ein Prozent aller infizierte­n Menschen Krankheits­symptome. In Deutschlan­d wird die Zahl der Infektione­n pro Jahr grob zwischen 60 000 und 200 000 geschätzt, denn es gibt keine Meldepflic­ht. Bayern hat sie allerdings testweise eingeführt, Baden-Württember­g nicht. Die Krankheit werde nicht von Mensch zu Mensch übertragen wie etwa die Grippe oder Covid-19. Außerdem bedeute eine Meldepflic­ht zusätzlich­en Aufwand für Ärzte und Gesundheit­sämter, heißt es aus dem baden-württember­gischen Gesundheit­sministeri­um. Meldepflic­htig dagegen ist die FSME (Frühsommer­Meningoenz­ephalitis, als Hirnhauten­tzündung bekannt), die ebenfalls von Zecken übertragen wird. BadenWürtt­emberg und Bayern zählen zu den FSME-Risikogebi­eten. Pro Jahr werden in Deutschlan­d rund 500 Erkrankung­en bekannt. Die Zahl ist rückläufig, wohl auch, weil gegen FSME im Gegensatz zur Borreliose geimpft werden kann.

Um einem Zeckenstic­h vorzubeuge­n, sollten Spaziergän­ger und Jogger in Wald, Feld und Wiese lange Kleidung und feste Schuhe tragen und den Körper nach einem Ausflug ins Grüne gründlich nach Zecken absuchen. Die

Spinnentie­re verstecken sich gerne in den Achseln und Kniekehlen, im Schamberei­ch, in Bauchfalte­n und hinter den Ohren. Wenn man eine Zecke entdeckt, sollte man sie möglichst schnell entfernen, denn die Übertragun­g von Borrelien findet erst nach zwölf bis 24 Stunden statt. Dazu nimmt man am besten eine spitze Pinzette, mit der man die Zecke senkrecht herauszieh­t. Wichtig ist, dass das Tier nicht zerquetsch­t wird, da sonst Krankheits­erreger in die Wunde gelangen können. Bildet sich um die Einstichst­elle nach ein bis zwei Wochen ein roter Kreis, kann dies ein Anzeichen für Borreliose sein. Dann sollten Betroffene zum Arzt gehen.

Informatio­nen über die Borreliose G Selbstthil­fegruppe Oberschwab­enBodensee-Allgäu gibt es unter www.borreliose-shg-oba.de (sim)

Denn Ärzte sagen zu ihr Sätze wie: „Eine junge Frau hat noch keine Herzproble­me. Gehen Sie nach Hause, machen Sie mehr Sport, leben Sie ihr Leben.“In dem Bericht nach einem Reha-Aufenthalt in einer psychosoma­tischen Klinik steht: „Unkorrigie­rbare inhaltlich­e Fixierung auf eine Vielzahl körperlich­er Symptome. Gedanklich­e Einengung und überwertig­e Idee hinsichtli­ch der subjektiv wahrgenomm­enen Borreliose­Erkrankung.“Angesichts solcher Äußerungen überrascht es nicht, dass sich die Patientin „unglaublic­h verletzt“fühlt. Viel schlimmer aber sei damals gewesen, dass sie gelegentli­ch überlegt habe, ob die Ärzte vielleicht doch recht haben, sie sich alles nur einbildet. „Tatsächlic­h keimt auch heute noch der Wunsch in mir auf, dass es wirklich so ist. Dass ich nur ausbrechen muss und alles wird gut“, erzählt Anna Freitag.

Durchs Telefon ist das zustimmend­e Kopfnicken von Hanne Leonhard aus Immenstaad fast zu vernehmen, als sie davon hört. Aus leidvoller Erfahrung weiß die Leiterin der Borreliose-Selbsthilf­egruppe Oberschwab­en-Bodensee-Allgäu, dass Borreliose-Kranke von vielen Medizinern als „Hypochonde­r“und „nicht ganz normal“angesehen werden und das durch die Blume gesagt bekommen. Auch für Lebenspart­ner, Familie und Freunde sei es schwer, Borreliose­Kranke zu verstehen. „Das ist der häufigste Grund, wieso die Menschen zu uns kommen. Sie wollen einfach mal abladen können“, erklärt Leonhard. Die andere Leiterin dieser Selbsthilf­egruppe, Sabine Haschke aus Ravensburg, hat in der „Schwäbisch­en Zeitung“vergangene­n Sommer festgestel­lt, dass vor allem viele jüngere Betroffene mit der Krankheit nicht an die Öffentlich­keit gehen, weil sie fürchten in die „Psychosoma­tik-Ecke“gedrängt zu werden.

Beim Hartmannbu­nd der Ärzte kennt man Vorwürfe dieser Art. Baden-Württember­gs Vorsitzend­er Klaus Rinkel, selbst Neurologe, erklärt dies mit den Problemen bei der Diagnostik („Das Krankheits­bild ist sehr bunt.“) und dem Zeitfenste­r, das oft zwischen dem Zeckenstic­h und der Erkrankung liegt. „Nur 30 Prozent der Infizierte­n erinnern sich an einen Zeckenstic­h. Außerdem gibt es viele andere Krankheite­n mit ähnlichen Symptomen und Borreliose-Verlaufsfo­rmen, die untypisch sind.“Trotzdem ist seine Erfahrung, dass die Ärzteschaf­t Patienten und ihre Probleme ernst nimmt. „Ernst nehmen bedeutet aber nicht, dass zur Beruhigung eine Diagnose bestätigt, sondern dass tatsächlic­h nach den Ursachen geforscht wird. Und es bedeutet auch nicht, dass nicht auch uns im Einzelfall ein Fehler unterlaufe­n kann.“

In der Regel ist Borreliose heilbar. Rinkel bestätigt aber, dass es Fälle gibt, bei denen Antibiotik­aBehandlun­gen nicht ansprechen. Aus seiner langjährig­en Erfahrung kennt auch er „chronifizi­erte Verläufe, unter anderem mit einem langfristi­gen Eschöpfung­ssyndrom“. Die sichere Zuordnung der einzelnen Symptome zur Borreliose sei nach langem Krankheits­verlauf aber schwierig. Bei lange anhaltende­n Beschwerde­n nach einer Borreliose­behandlung sei deshalb eine eingehende Abklärung dieser Symptome und eine ergebnisba­sierte Therapie erforderli­ch. Die Zusammenfa­ssung dieser Symptome als „chronische Borreliose“ist unter Neurologen umstritten.

Anna weiß, dass ihre Erkrankung einen sehr seltenen, weil ausgesproc­hen schweren Verlauf genommen hat. Und ob alle ihre Symptome tatsächlic­h auf eine Borreliose zurückzufü­hren oder womöglich Nebenwirku­ngen monatelang­er Antibiosen sind, spielt keine Rolle mehr. Keine der vielen verschiede­nen, über einen langen Zeitraum durchgefüh­rten medizinisc­hen Therapien hat zu einer nachhaltig­en Verbesseru­ng geführt. Der beschwerli­che Weg durch unzählige Institutio­nen während der vergangene­n Jahre hat die junge Frau noch mehr ermüden lassen. Da sie nie gearbeitet hat, weder als behindert gilt, noch als arbeitsunf­ähig eingestuft ist oder eine Pflegestuf­e hat, erhält sie keinerlei staatliche Hilfe. Nur das Jugendamt hat ihr unter die Arme gegriffen und eine Zeit lang eine Haushaltsh­ilfe zur Verfügung gestellt. Denn mittlerwei­le ist Anna verheirate­t und hat eine vierjährig­e Tochter. Trotz des Risikos haben sich Anna und ihr Mann in einer hoffnungsv­ollen Phase entschloss­en, ein Kind zu bekommen. 2016 schließlic­h kam Junia zur Welt.

„Für mich war es ein unglaublic­hes Erlebnis und ein Gottesgesc­henk, dass in so einem kaputten Körper ein gesundes Kind entstanden ist“, sagt die Mutter und ihre Augen beginnen zu leuchten. Allerdings nur kurz. Denn dann erzählt die 37-Jährige von den vielen Schwierigk­eiten, die auftauchte­n. Und was es bedeutet, für ein kleines Kind zu sorgen, wenn der Vater arbeiten geht und die Mutter wegen ihrer Krankheit bis zu 18 Stunden am Tag liegen muss. „Ohne die Unterstütz­ung meiner Eltern und meiner vier Geschwiste­r würden wir das nie schaffen“, erzählt Anna. „Mein Bruder hat jüngst sogar alle Fenster bei uns geputzt. Aber es kann auch vorkommen, dass vier Wochen lang nicht aufgeräumt oder staubgesau­gt wird.“

Noch bis zum vergangene­n Sommer hat es die junge Mutter geschafft, mit der Kleinen täglich auf den Spielplatz zu gehen. Daran ist im Moment nicht zu denken. Deshalb stapeln sich um das Bett herum jede Menge Kinderbüch­er, Puzzles und Kinderklam­otten. So kann Anna im Bett ihre Tochter anziehen, mit ihr spielen oder ihr vorlesen. Als der Kindergart­en allerdings wegen der Corona-Krise schloss und Junia die vergangene­n Wochen zu Hause bleiben musste, kamen die Freitags an ihre Grenzen. Und inzwischen fragen sich die Eltern oft, wie sich in Zukunft ihr Alltag als kleine Familie überhaupt leben lässt.

Während Anna dies alles erzählt, wirkt sie sehr gefasst und reflektier­t. Und wundert sich selbst darüber. Denn in ihr sei die Angst unglaublic­h groß, einmal so schwach zu werden, dass sie sich nicht mehr um ihr Kind kümmern kann. Und sie gesteht, dass sie auch sehr oft verzweifel­t ist und sich wertlos fühlt. „Borreliose tötet nicht, sie nimmt das Leben“, sagt eine Leidensgen­ossin. Anna würde diesen Satz sofort unterschre­iben. Gleichzeit­ig spricht sie aber auch von ihrem tiefen Glauben an Gott, der sie stärkt und ihr die Hoffnung gibt, ihr Leben sei doch zu etwas gut. Zum Beispiel, wenn sie ihre Geschichte erzählt und damit auch anderen eine Stimme gibt, die sich in ihrer leidvollen Situation nicht wahrgenomm­en fühlen.

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FOTO: IMAGO IMAGES Wer auf ein solches Schild trifft, sollte sich nach dem Ausflug ins Grüne gründlich nach Zecken absuchen.
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FOTO: PRIVAT Noch vor zwei Jahren war es Anna möglich, mit ihrer kleinen Familie am norditalie­nischen Ortasee einen Urlaub zu verbringen.

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