Branche ohne starke Lobby
Rund 950 Konzerte hat die Mengener Agentur Extratours wegen der Corona-Krise schon abgesagt
MENGEN - Mit Einnahmen rechnet Andreas Walser in diesem Jahr nicht mehr. Der Inhaber der Mengener Konzertagentur Extratours und sein Partner Ludwig Welte haben seit Mitte März bundes- und teilweise europaweit schon rund 950 Konzerte abgesagt oder verlegt. Weil derzeit noch vollkommen offen ist, in welcher Größenordnung ab September Veranstaltungen stattfinden können, ist ein Ende nicht in Sicht. „Wenn wir auf Herdenimmunität oder einen Impfstoff warten müssen, kann es schnell Herbst 2021 werden, bis wir wieder größere Konzerte veranstalten dürfen“, sagt Walser. Ohne finanzielle Hilfen gäbe es aber bis dahin kaum noch Spielstätten oder das notwendige Personal hinter den Kulissen. „Wenn unsere gewachsene Kulturlandschaft erhalten bleiben soll, muss jetzt gehandelt werden.“
Für 70 Bands und Solokünstler organisiert die Mengener Agentur Konzerte und Touren, darunter auch bekannte Größen wie Revolverheld, Faun, Saltatio Mortis, Jennifer Rostock oder Subway to Sally. „Wir sind der verlängerte Arm der Künstler“, sagt Ludwig Welte. Das siebenköpfige Agenturteam kümmert sich vom Tourbus über Licht- und Tontechnik bis zur Übernachtung und dem Catering um alles, was mit dem Auftritt zusammenhängt. Absprachen mit den Clubs und Hallen, in denen die Bands spielen, gehören genauso dazu wie Werbung und Ticketverkauf. „Die Tourplanung wird oft eineinhalb Jahre vor dem Start gemacht“, sagt Welte. „Da kann man sich leicht ausmalen, welches Chaos bei uns nach der Veröffentlichung des Veranstaltungsverbots ausgebrochen ist.“
Anfangs seien sie noch recht blauäugig vorgegangen und hätten Termine aus dem März und April in den Juni und Juli verlegt. „Da müssen wir jetzt alles noch einmal umplanen“, so Walser. Weil aber viele Clubs zum Jahresende kaum noch Termine frei hätten und im nächsten Jahr unter Umständen schon eine andere Tour geplant sei, gestalte sich das sehr kompliziert. „Wir konkurrieren mit anderen Agenturen um die Termine, und gleichzeitig lassen die Betreiber der Spielstätten durchblicken, dass sie nicht wissen, ob sie bei den Beschränkungen überhaupt noch bis zu dem Termin durchhalten können, sollte es keinen staatlichen
Rettungsschirm geben“. Gleiches gelte für die vielen kleinen Rädchen, die den Veranstaltungsbetrieb am Laufen halten: Veranstaltungstechniker, Busfahrer oder Bandbegleiter. „Irgendwann dürfen wir dann wieder Großveranstaltungen machen, aber die ganze Infrastruktur ist weggebrochen, die solche Events überhaupt möglich macht“, sagt Welte. Er kennt einige aus der Branche, die mittlerweile übergangsweise als Paketboten, Feuerwehrmänner oder Lastwagenfahrer arbeiten, um ihr Einkommen zu sichern.
Das Agenturteam hat seit mehr als zwei Monaten die doppelte und dreifache Arbeit. Bei Null Einnahmen. „Die Soforthilfe war für uns nur einen Tropfen auf den heißen Stein“, sagt Andreas Walser. Für ihre Leistung wird die Agentur erst nach den Veranstaltungen bezahlt, wenn auch die Künstler ihre Gagen erhalten haben. Für seine Mitarbeiter hat Walser deshalb trotz des hohen Arbeitsaufkommens Kurzarbeit angemeldet. „Wir können uns bis zum Sommer 2021 aus meinen privaten Rücklagen finanzieren“, hat der Inhaber der Agentur ausgerechnet. Bis zu 300 000 Euro würden bis dahin benötigt, sollten weiterhin keine Großveranstaltungen, wie sie von Extratours organisiert werden, genehmigt werden, damit Walser sein Büro, die Infrastruktur und sein Team so aufrechterhalten kann. „Wenn wir aber dann keine Perspektive haben, sieht es schlecht aus“, sagt er. Dadurch, dass er in den vergangenen 20 Jahren gut gewirtschaftet und sich – auch dank seiner vorbildlichen Mitarbeiter – einen guten Ruf erarbeitet habe, seien überhaupt erst Rücklagen möglich geworden. „Es ist leider so, dass viele andere in der Branche eher von der Hand in den Mund leben und bereits mit Beginn der Krise in ihrer Existenz bedroht waren. Erste Insolvenzen und Geschäftsaufgaben gab es bereits.“
8,5 Millionen Euro an Gagen erwirtschaftet Extratours nach eigenen Angaben in einem durchschnittlichen Jahr. Normalerweise bleibe da „eine ordentliche Summe“an Gewerbesteuer für die Stadt hängen. „Die 8,5 Millionen sind Umsätze, die wir für die Bands an Gage umsetzen und erwirtschaften“, sagt Walser. Ticketumsätze seien dabei noch nicht berücksichtigt. Ticketumsätze und Gagen machen nach Angaben von Extratours den größten Anteil des
Firmenumsatzes aus. Den Gewinn nannte die Konzertagentur der „Schwäbischen Zeitung“nicht.
„Vielen Menschen ist gar nicht so bewusst, welche Wirtschaftskraft hinter unserer Branche steckt.“Allein die Musikwirtschaft bringe Umsätze von mehr als elf Milliarden Euro. Von Konzerten profitieren eben auch Hotels und Gaststätten oder andere Wirtschaftszweige. „Deren Stimmen sind aber in den vergangenen Wochen viel lauter gewesen“, sagt Walser. „Wir haben einfach keine starke Lobby.“Wie sehr sich die Kulturlandschaft in Deutschland verändere, würde sich erst zeitlich versetzt zeigen. „Wenn klar wird, wie viele Insolvenzen es tatsächlich gibt.“
Weil derzeit noch völlig offen sei, in welcher Größe Konzerte ab September wieder möglich sind, komme intern immer öfter Frust auf. „Wir planen ins Blaue und haben keinerlei Sicherheit“, sagt Welte. „Wenn Veranstaltungen nur mit Abstandsregeln möglich seien, bedeute das das Aus für viele Clubs. „Konzerte mit 50 statt 500 Gästen rentieren sich wirtschaftlich einfach nicht.“Konzerte mit Autokino-Charakter seien auch eher unrentabel und die könnten sich nur größere Bands wie etwa Revolverheld leisten. „Die Musiker verzichten weitestgehend auf ihre Gage, damit die Crew im Hintergrund wenigstens ein bisschen was verdient und hoffentlich für das kommende Jahr bei der Stange bleibt“, sagt Welte.