Wie eine Partie russisches Roulette
20 Prozent der Corona-Infizierten machen 80 Prozent der Ausbreitung aus – aber wer wird wann „Superspreader“?
BERLIN (dpa) - Es geschah Anfang März, als das neuartige Coronavirus zwar schon im Gespräch, der Alltag aber noch frei von Beschränkungen war. Fast 80 Mitglieder der Berliner Domkantorei probten in einem Saal, wie Chormitglied Hanna Töpfer erzählt. „Wir saßen nebeneinander.“Auch Lautstärke sei von den Sängern stellenweise gefragt gewesen: forte, fortissimo. „In den nächsten Wochen haben knapp 60 Teilnehmer von Corona-Symptomen oder einem positiven Test berichtet“, sagt Hanna Töpfer. Im Nachhinein habe sich herausgestellt, dass eine der Sängerinnen Kontakt zu einem bestätigten Fall gehabt hatte. Vermutlich verbreitete sie Sars-CoV-2 unter den Sängern weiter. Das Robert-Koch-Institut (RKI) in Berlin arbeitet den Fall derzeit auf.
Was aller Wahrscheinlichkeit nach auch bei der Chorprobe passiert ist, hat sich als eines der Muster der Corona-Pandemie herauskristallisiert: ein Anlass, Dutzende Ansteckungen, womöglich Hunderte Folgefälle. Bekannt wurden in Deutschland so unter anderem die Kappensitzung in Gangelt in Nordrhein-Westfalen und Starkbierfeste in Bayern. International ein ähnliches Bild: vom Après-Ski in Tirol bis hin zu einem Clubbesuch in Südkorea, auf den rund 200 Infektionen zurückgehen sollen.
Hierzulande sind Großveranstaltungen zwar noch immer verboten. Mit den Lockerungen in vielen Bereichen könnten sich dem Virus allerdings neue Chancen bieten. Fachleute sprechen von „Superspreadern“, wenn jemand bei einem Anlass viel mehr Menschen ansteckt, als zu erwarten wäre. Bei Sars-CoV-2 nehme man an, dass ein Infizierter ohne Gegenmaßnahmen durchschnittlich drei andere Menschen anstecken würde, sagt der Infektiologe Bernd Salzberger vom Universitätsklinikum Regensburg. Eine exakte Grenze, ab wie vielen Ansteckungen man als Superspreader gilt, gebe es nicht.
Das Phänomen macht jedenfalls deutlich, dass die sogenannte Reproduktionszahl bei Sars-CoV-2 täuschen kann: Liegt der R-Wert zum Beispiel bei 1, heißt das, dass ein Infizierter im Durchschnitt einen anderen Menschen ansteckt. Wissenschaftler nehmen bei Sars-CoV-2 inzwischen eine deutliche Ungleichverteilung an: dass wenige Leute ganz viele andere Menschen anstecken, die meisten Infizierten hingegen niemanden oder nur wenige Menschen, wie Virologe Christian Drosten kürzlich im NDR-Podcast zusammenfasste. Je nach Schätzung machten 20 Prozent der Infizierten – oder noch weniger – 80 Prozent der Ausbreitung aus.
Superspreading existiert unterschiedlich stark ausgeprägt auch bei anderen Krankheiten. Auch Tiere können Superspreader sein, wie RKIInfektionsepidemiologe Udo Buchholz sagt. Christian Drosten verglich die Treiberfunktion der Massenverbreiter im NDR mit einer Partie russisches Roulette: Die meisten Infizierten sorgten für so wenige Ansteckungen, dass es eine Weile nicht auffalle. Irgendwann aber komme die Kugel im Revolver: im übertragenen Sinne ein Superspreader, von dem explosionsartig Infektionsketten ausgehen. Drosten wertet diese Art der Ausbreitung als Chance, ohne Impfstoff glimpflich durch Herbst und Winter zu kommen, weil man gezielt gegen Superspreading vorgehen könne.
Aber woran liegt es, dass nur manche Menschen extreme Virenschleudern sind? Komplett verstanden ist das noch nicht. „Superspreading ist wahrscheinlich eine Mischung aus Eigenschaften einer Person und der Situation“, sagt Bernd Salzberger. Voraussetzung ist demnach ein Infizierter, bei dem sich das Virus gerade stark im Rachen nahe den Stimmbändern vermehrt, der eine laute Stimme hat und der über genügend Schleim zur Tröpfchen- und Aerosolbildung verfügt. Letzteres sei ein Kriterium, das ältere Menschen mit eher trockenen Schleimhäuten weniger zu Superspreadern mache. Wie Udo Buchholz vom RKI ergänzt, gibt es auch gesunde Menschen, die beim Atmen und Sprechen von Natur aus mehr Partikel ausstoßen als andere.
Wer allerdings zum hochansteckenden Zeitpunkt zu Hause sitzt – bei Covid-19 ist das nach derzeitigem Kenntnisstand wohl oft der Tag vor Symptombeginn –, wird eher kein Massenverbreiter. Neben einem Anlass gelten auch die Zahl der Kontakte und das Verhalten als entscheidend: „Singen und lautes Sprechen sind die besten Wege, um ein Aerosol zu erzeugen“, sagt Bernd Salzberger. Aerosole sind feinste Tröpfchenkerne, die im Gegensatz zu größeren Tröpfchen längere Zeit in der Raumluft schweben können. Vermutet wird derzeit, dass ein guter Teil der Corona-Ansteckungen darauf zurückgeht – gerade in Situationen wie Chorproben, bei denen Teilnehmer nicht nur einige Minuten zusammen verbringen.
Die Berliner Chormitglieder sollen für das RKI nun Fragebögen ausfüllen, auch eine Untersuchung auf Antikörper ist geplant. Bei den Infizierten habe es das ganze Spektrum an Verläufen gegeben, sagt Hanna Töpfer: Manche hätten fast gar nichts gehabt, andere lagen auf der Intensivstation. Inzwischen sei niemand mehr in der Klinik: „Wir haben mit Online-Proben angefangen.“