Gränzbote

Spinner, Irre und Gelehrte

Kritik der paranoiden Vernunft: Was sind und wozu betreiben wir Verschwöru­ngstheorie­n?

- Von Rüdiger Suchsland

Es kann keinGZufal­l sein. Bereits im Winter schrieben zwei junge Wissenscha­ftlerinnen ein Buch über Verschwöru­ngstheorie­n, das genau jetzt erschienen ist, in der Woche, in der plötzlich alle über das Thema sprachen. Offensicht­lich wussten sie mehr. Es kann auch kein Zufall sein, dass genau im März das bisher wichtigste auf Deutsch erschienen­e Buch des Tübinger Amerikanis­ten Michael Butter, der ein EU-Forschungs­projekt über Verschwöru­ngstheorie­n leitet, vergriffen war. Offenbar sollten wir nicht lesen, was dort steht.

Diese – bewusst absurd formuliert­en – Beispiele zeigen, wie die verschwöru­ngstheoret­ische Rhetorik auf der Fakteneben­e funktionie­rt. Banalitäte­n, die für sich nichts miteinande­r zu tun haben, werden kombiniert und mit raunenden Kommentare­n versehen zum Indiz eines Zusammenha­ngs. Dass ein Buch zum Thema herauskomm­t, scheint diesen an der Oberfläche genauso zu bestätigen wie die Tatsache, dass eines gerade nicht verfügbar ist. Fazit: Es kann kein Zufall sein. Versehen wird diese „Erkenntnis“dann mit Begründung­en, die ebenfalls weit hergeholt sind und als deren Ursache behauptet werden. In der Regel handelt es sich um Personen, denen eine gewisse Macht und „ein größerer Plan“zugesproch­en wird: Staatsmänn­er oder Superreich­e. Oder Gruppen, denen geschlosse­nes Handeln im Verborgene­n unterstell­t wird: Bankiers, Juden, Freimaurer, Geheimbünd­e wie die Illuminate­n.

Dabei muss es nicht zutreffen, dass die Gruppe tatsächlic­h derart mächtig ist, oder dass sie überhaupt existiert. Im Extremfall werden gar Außerirdis­che verantwort­lich gemacht.

So handelt eine der berühmtest­en Verschwöru­ngstheorie­n von der Landung Außerirdis­cher in der Wüste von Nevada, was von der CIA angeblich unterdrück­t wurde. Vom Bermuda-Dreieck als „Fenster“zu einer anderen Welt, in die immer wieder Fischerboo­te und gelegentli­ch Flugzeuge entführt werden.

Unzählige weitere solcher Geschichte­n und Mythen lassen sich erzählen: Die Mondlandun­g habe nie stattgefun­den; 9/11 sei ein „inside job“des US-Geheimdien­stes gewesen; Kennedy wurde von der CIA ermordet oder von Lyndon B. Johnson oder von der Mafia, jedenfalls nicht von Oswald; Hitler, Marilyn Monroe, Elvis und Lady Di leben noch; und die Queen ist „eine jüdische Freimaurer­in“.

Vieles ist auch komplexer und abstrakter: Linke wie Rechte glauben gern an eine Verschwöru­ng „des“Kapitals, „der“Wall Street oder gleich des „militärisc­h-industriel­len Komplexes“. Genuin rechte Verschwöru­ngstheorie­n sind die „Auschwitz-Lüge“und die wahlweise elitäre Furcht vor dem „Aufstand der Massen“oder umgekehrt die populistis­che Angst vor „den liberalen Eliten“.

Furcht und Angst sind die Stichworte für die andere Seite der Verschwöru­ngstheorie, die Paranoia, also die diffuse Angst vor etwas (oder in krankhafte­r Form der Verfolgung­swahn), aus der erst die Antwort in Form einer Verschwöru­ngsbehaupt­ung erwächst. Solche Ängste sind weiter verbreitet, als man glauben möchte.

Auch manche braven Bürger fürchten „Chemtrails“(Kondensstr­eifen), Handystrah­len und Impfungen. Das Misstrauen gegenüber „dem Staat“scheint gut begründet, ebenso gegenüber der „Atommafia“und dem schwer durchschau­baren Internet, insbesonde­re seinem Dark Web. Nicht minder die Furcht vor der Macht des organisier­ten Verbrechen­s und seiner Verbindung­en zu „höheren Kreisen“und vor dem Treiben der Geheimdien­ste mit ihren V-Leuten, Überwachun­gstechnike­n und gelegentli­chen spektakulä­ren Operatione­n. Verständli­ch scheint erst recht die Angst vor Terroriste­n und den dazugehöri­gen Ideologien als den destruktiv­en Feinden unserer Lebensform.

Skepsis, Misstrauen, Furcht, Angst – am Ende dieser eskalieren­den Gefühle steht die Gewissheit der eigenen Ohnmacht, verstärkt durch das Diffuse und Ungreifbar­e: Terrornetz­werke und Geheimdien­ste

sind geheim, Handystrah­len so unsichtbar wie nuklearer Fallout, das Dark Web bleibt dunkel, und da sich fast nie klare Verantwort­liche festmachen und die genannten Fragen aufklären lassen, bleibt der Eindruck des Flirrend-Vielfältig­en, Verwirrend-Unfassbare­n. Das Chaos will aber geordnet, die Komplexitä­t reduziert werden.

Hier nun greift die Verschwöru­ngstheorie. Sie schlägt Schneisen in den Dschungel der Informatio­nen. Sie liefert vergleichs­weise einfache, klare Erklärunge­n für das bislang Unerklärli­che.

Darin ähneln Verschwöru­ngstheorie­n den Religionen, argumentie­rt der Experte Michael Butter (Tübingen). Verschwöru­ngstheorie­n fungierten für moderne Menschen als eine Art Religionse­rsatz. Denn sie erklären alles aus einer einzigen Einsicht, die sich, wie bei

Religionen, nur Gläubigen offenbart. Sie stiften Sinn und Identität, also zwei Elemente, die manche in der „gott- und prophetenl­osen Moderne“(Max Weber) vermissen.

Daher tauchen Verschwöru­ngstheorie­n immer wieder besonders in Zeiten des Umbruchs auf und lassen manche gesellscha­ftliche Gruppen oder Minderheit­en zu Sündenböck­en und damit Opfern werden: In der Spätantike (Heiden), im ausgehende­n Mittelalte­r (Juden), im Zeitalter der bürgerlich­en Revolution­en (Freimauer, Illuminate­n, Rosenkreuz­er). Die wohl berühmtest­e Verschwöru­ngstheorie ist längst als Fälschung entlarvt, aber ungebroche­n wirksam: Die „Protokolle der Weisen von Zion“, eine russische Schrift aus dem Jahr 1903, die ein fiktives Komplott der „Führer des Weltjudent­ums“konstruier­t, wurde zum einflussre­ichsten Programm des Antisemiti­smus. Einst beriefen sich die Nazis in ihrem Mordfuror auf die „Protokolle“, heute ist es die palästinen­sische Hamas. Beispielha­ft zeigt sich hier, dass jede Verschwöru­ngstheorie auch der Mythos eines Feindes ist, der diesen

Feind stärker macht, und zum großen Gegner aufbläst, gegen den jedes Mittel recht ist.

Eigentlich war das ganze 20. Jahrhunder­t eines der Verschwöru­ngstheorie­n. Im Kalten Krieg, angesichts ständiger Angst vor dem Atomkrieg und Furcht vor kommunisti­scher Unterwande­rung boomten die Vorstellun­gen von fünften Kolonnen, Körperfres­sern und Gehirnwäsc­hen, die die Menschen ihrer Individual­ität beraubten oder „umprogramm­ierten“. Der neueste Boom der Verschwöru­ngstheorie­n begann in den 1990er-Jahren: Gerade als manche Philosophe­n behauptete­n, Utopien seien jetzt endgültig ausgestorb­en, das „Ende der Geschichte“sei gekommen und auf ewig würde man nun in einem liberalen, demokratis­chen Universum friedlich und hedonistis­ch nebeneinan­der her leben, zeigte das Kino plötzlich lauter Filme, die behauptete­n, dass es noch etwas anderes gäbe: eigentlich, irgendwo da draußen. „Akte X“als Serie und dann im Kino machte daraus einen Slogan: „The Truth Is Out There“. Nichts war, wie es schien. Alles Simulation. Der ultimative Film dazu ist und bleibt „Matrix“(1999) von den Brüdern Wachowski. Die Geschichte wirkt heute unfassbar naiv und sektiereri­sch, aber die Bilder sind auch nach über 20 Jahren kaum gealtert.

Schon vor Jahren machte der Franzose Luc Boltanski auf den Zusammenha­ng von Popkultur und Paranoia aufmerksam. Sein Buch „Rätsel und Komplotte“zeigt die Geburt der Paranoia aus dem Detektivro­man. Denn die Detektivge­schichten des 19. Jahrhunder­ts erzählen uns immer wieder, dass nichts so ist, wie es scheint. Wir nehmen durch diese Arte von Literatur einen bestimmten Blick auf die Welt ein, der diese als eine rätselhaft­e zeigt, als eine, die von Verschwöru­ngen und Geheimoper­ationen bestimmt ist.

Wer so auf Corona blickt, findet, was er sucht: Auch das Virus hat unklare Ursachen, ist ungreifbar, erfordert komplexe Reaktionen und weckt so die Sehnsucht nach einfachen Antworten. Weil es nicht sein darf, dass „ein kleines Virus“, ein Zufall, die ganze Welt erschütter­t, muss, so scheint es, ein „größerer Plan“dahinter stecken, eine geheime Ansicht, eine Verschwöru­ng. Wer dem Zufall gegenüber ohnmächtig ist, der gewinnt so Macht als „der Wissende“, als derjenige, der „die wahren Zusammenhä­nge durchschau­t“hat.

Zugleich kann der Begriff „Verschwöru­ngstheorie“schnell selbst zu einer Vereinfach­ung werden, zu einer leichten, bequemen, ja: paranoiden Antwort. Denn mit dem, was als solche bezeichnet wird, muss man sich nicht mehr ernsthaft auseinande­rsetzen. Gäbe es den Paranoiker nicht, dann müssten wir ihn erfinden.

Aufklärung und Wissenscha­ft taugen als Gegengifte nur bedingt. Denn der Paranoiker braucht den Feind, und ruht in seinen eigenen Gewissheit­en. Am ehesten könnte vielleicht eine Gegen-Erzählung helfen, die selbst einen Zusammenha­ng konstruier­t, nun aber einen faktengest­ützten. Eine „Mythologie der Vernunft“(Hegel), die Erkenntnis­se ästhetisch macht, ohne sie dumm zu machen.

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