Die schnellsten Männer von München
Die Ulmer Basketballer entzaubern auch Oldenburg und treten wie Titelfavoriten auf
MÜNCHEN - Mitte März, als die Punkterunden im deutschen Sport allesamt wegen des nahenden Coronavirus abgebrochen wurden, da befanden sich die Ulmer Basketballer auf dem zehnter Tabellenplatz, und man muss sagen: viel durchschnittlicher, als sie auftraten, ging es kaum. In der Nacht des 8. Juni allerdings, als das Team von Jaka Lakovic nach den Bayern auch den zweiten Favoriten distanziert hatte, mit einem deutlichen 85:66 (42:35), wurde jedem neutralen TV-Zuschauer klar: Die deutsche Meisterschaft führt 2020 nur über ratiopharm Ulm. Noch ein Spiel müssen die Schwaben gewinnen – gegen die ersatzgeschwächten Crailsheimer sind sie am Mittwoch haushoher Favorit (20.30), am Freitag gegen Göttingen ebenso –, dann sind sie Gruppensieger im Münchner Finalturnier. Auch im Playoff-Viertelfinale gegen den Vierten der anderen Gruppe wären die Rollen dann klar verteilt.
Schickt sich da eine Mannschaft an, mehr oder weniger aus der Quarantäne heraus den deutschen Basketball zu erobern, ähnlich wie das kleine Dänemark 1992, das damals als Nachrücker aus dem Urlaub kam und plötzlich Fußball-Europameister war? Anders gefragt: Wie um Himmels Willen haben es die Ulmer nur geschafft, zehn Trainingseinheiten später plötzlich Basketball aus einem Guss zu spielen und ihren Rivalen in allen Statistiken überlegen zu sein, von A) wie Assists bis Z) wie Zonenverteidigung?
Per Günthers Erklärungen am Dienstag auf YouTube lieferten ein wenig Aufklärung. Dass man vor allem am Saisonstart enttäuscht habe, sei an ihm selbst gelegen und seiner Knieverletzung, zudem am jungen Killian Hayes, der sich schwer getan habe in der neuen Liga – im Endeffekt sei alles über Zoran Dragic gelaufen, den Star des Teams, der Ende Januar zum Euroleague-Club Baskonia Vitoria wechselte. „Als Killian zu großer Form auflief und ich wieder fit war, waren wir auch als Team viel stärker, und jetzt läuft es noch besser. Wir haben eine sehr gute Spannung in der Mannschaft und haben viele Waffen, können den Korb attackieren, sind super im Pick and Roll, und, naja: Alle können werfen“, sagte Günther also. Er hätte auch sagen können: Wir haben jetzt keine Stars mehr, dafür ist die Mannschaft ein Komet.
Ein Mann sticht bei den neuen Ulmern allerdings doch heraus. Thomas Klepeisz (28) aus Güssing im Burgenland, bis vor vier Wochen noch Kapitän der Braunschweiger, ist der lebende Beweis dafür, dass Österreicher nicht nur Après-Ski-Parties feiern, sondern zuweilen auch tiefgründigen Basketball spielen können. Per Günthers Lob für Klepeisz fiel so lakonisch aus, dass es geradezu ein Ritterschlag war. „Tommy hilft sowieso“, sagte er. „Der hätte auch gar kein Training gebraucht, den hätte man nachts anrufen können, am nächsten Tag hätte er gespielt wie jetzt. Man hätte ihm gesagt: Steh einfach rum oder lauf ein bisschen durch die Gegend. Wenn du frei bist, bomb dich durch, und sonst gibst du halt 'nen Extrapass.“
Ab der 23. Minute sah man, was die Ulmer derzeit ausmacht. Nach einem viertelübergreifenden 11:0-Lauf der Oldenburger lagen sie plötzlich wieder 42:43 hinten, ehe sie geschlossen einen Gang zulegten – angeführt von Tyler Harvey, ihrem individuell besten Mann. Mit seinem dritten Dreier – aus gut acht Metern – stoppte Harvey den Run der Rivalen. Defensiv stimmte auf einmal der Zugriff wieder, blitzschnell passten sich die Ulmer nach vorn und setzten sich mit Tempoangriffen wieder ab. Archie Goodwin spielte seine Athletik aus, und Günther und Klepeisz wirbelten im Duett: Erst legte Klepeisz Günther einen freien Dreier auf, dann revanchierte sich der Kapitän mit einem feinen Pass, den Klepeisz aus der Distanz zum 62:50 versenkte. Die Punktequote – Harvey 15, Goodwin 14, Klepeisz 11, Willis 10, Osetkowski 8, Günther 7, Obst 6, Schilling 6, Bretzel 4, Heckmann 4 – zeigt, wie homogen, ergo unberechenbar die Ulmer sind. Und wie gefährlich.
Ob die schnellsten Männer von München erstmals in der Vereinsgeschichte Meister werden können? Für unmöglich hält es Günther nicht. „Wir haben noch unsere Baustellen, das hat das Spiel gezeigt, aber wir haben auch tolle Charaktere, und wollen jetzt erst mal die Gruppe gewinnen. In so einer Situation, mit diesem Modus und einem Neustart für alle, ist es für die besten Mannschaften wie die Bayern oder Berlin sicher schwerer, sich durchzusetzen. Wenn man 100-mal spielt, setzt sich die bessere Mannschaft relativ sicher durch. Aber in diesem Format, mit nur jeweils zwei Spielen in den Play-offs? Wer weiß?“
Auch eine Clublegende wie der 32 Jahre junge Per Günther, seit zwölf Jahren in Ulm und 2012 Vizemeister, weiß aus Erfahrung: Es gibt für alles ein erstes Mal. Sicher ist allerdings auch: Unterschätzen wird die Ulmer seit Dienstagnacht keiner mehr.
Gruppe B (2. Spieltag) Ludwigsburg – Frankfurt 80:77 (37:35), Berlin – Bamberg 98:91 (55:56).