„Wir dürfen nicht Menschen gegen Menschen aufrechnen“
Der Ulmer Medizinethiker Florian Steger warnt vor einem Verfall der politischen Moral in der Corona-Krise – Was wir von den Griechen und ihrem Umgang mit den Seuchen lernen können
Der Blick in die Geschichte der Seuchen lehrt: „Abstand halten, auf den Nächsten schauen und die Solidarität der Immunisierten“waren schon vor 2500 Jahren, bei der Attischen Seuche in Athen, Forderungen. In der Corona-Krise könne man viel lernen, sagt der Ulmer Professor Florian Steger, Arzt, Medizinhistoriker und Medizinethiker. Er blickt im Gespräch mit Ludger Möllers kritisch auf Fragen von Sitten und Moral, die durch die Einschränkung der Grundrechte berührt werden.
Die Begriffe „Seuche“, „Epidemie“und „Pandemie“werden nicht trennscharf verwendet. Wovon spricht der Wissenschaftler?
In der Medizingeschichte verwendet man das Wort „Seuchen“, weil es neutraler und offener ist. Es lässt Interpretationsspielraum, es bleibt offen, was dahintersteckt: ein Bakterium, ein Virus oder sonst etwas? Seuchen gibt es seit Menschengedenken. Wir haben in den Anfängen unserer abendländischen Kultur bereits in den Homerischen Epen Seuchengeschehen. Es gab die
Vorstellung, dass die Götter uns Menschen dadurch bestrafen, dass sie uns Seuchen schicken.
Wie sollte dies in der Vorstellung der Antike passieren?
Apollon schickt den Seuchenpfeil. Und wenn ich genügend Abbitte leiste, befreit er mich wieder davon. Das sind Vorstellungen um 800 vor Christus. Da ging es um eine Seuche, aber keine Epidemie oder Pandemie.
Stoff für Verschwörungstheoretiker!
Dass wir uns den Göttern gegenüber verfehlt haben: Das ist vielleicht Stoff für Verschwörungstheoretiker. Was man lernen kann: Es tut uns gut, wieder ein bisschen bescheidener zu sein.
Wann sind die ersten Seuchen überliefert?
Es gibt gut überliefert bei Thukydides, 430 vor Christus, die Attische Seuche, die den Stadtstaat Athen bedroht hat. Das war keine Pandemie, sondern eine Epidemie, weil sie lokal begrenzt war.
Gibt es Parallelen zum aktuellen Geschehen?
Natürlich wussten die Griechen nicht, was genau der Erreger war. Sie wussten nicht ganz genau, wie die Infektionsketten waren. Aber man kann mindestens drei Aspekte daraus lernen. Erstens: Haltet Abstand, sonst steckt ihr euch an. Das finde ich enorm, denn wenn Sie heute ausgewiesene Kolleginnen und Kollegen hören, dann sagen die immer wieder: „Und haltet bitte Abstand.“
Was können wir noch lernen?
Und dann schaut zweitens Thukydides auf die psychosozialen Folgen: dass wir auf unseren Nächsten aufpassen müssen. Denn Seuchen führen zum sittlich-moralischen Verfall. Ich glaube, dass man das in unserer modernen Gesellschaft sehen kann. Daher darf man die Omas und Opas nicht alle wegsperren, sie ihrem Schicksal überlassen oder wochenlang die Altenund Pflegeheime schließen. Es muss sich jemand darum kümmern, und wenn es wenigstens webbasiert passiert.
Und die dritte Lernkurve?
Bei Thukydides lernen wir, dass die, die es durchgemacht haben, helfen können. Übersetzt: Die Immunisierten können doch früher wieder anpacken. Genau diese Diskussion hatten wir während des Lockdowns.
Dass diejenigen, die die Infektion hinter sich haben und damit Antikörper gebildet haben, ziemlich sicher geschützt sind. Auch wenn man bis heute nicht genau weiß, ob sie eine zweite Infektion durchmachen müssten.
Sie sprechen von einer Seuche, heute haben wir es mit einer Pandemie zu tun. Wann ist die erste Pandemie überliefert?
Die erste Pandemie war die Justinianische Pest, 541 nach Christus, zur Zeit Kaiser Justinians, also frühes Byzanz. Damals war zum ersten Mal ein solches Infektionsgeschehen länderübergreifend zu beobachten. Seitdem hatten wir im Mittelalter die Schwarze Pest, wir hatten die Spanische Grippe. Das sind epi- oder pandemische Geschehen, die immer wieder ähnlich auftreten und zu ähnlichen Folgen führen.
Lassen Sie uns auf die aktuelle Situation schauen. Wo entdecken Sie einen Verfall der Sitten?
Bei Thukydides heißt es zum Thema Sitten: Die Toten werden nicht ordentlich bestattet. So etwas durfte es in der antiken Welt nicht geben. Wenn Sie an die aktuellen Bilder aus Italien oder den USA denken, die wir gesehen haben: Die hatten Schwierigkeiten, weil das Gesundheitssystem teilweise so marode ist, dass es sehr schnell überfordert war. Es sind viele Menschen gestorben, die waren nicht gut darauf eingestellt, den Verstorbenen eine ordentliche Beerdigung zu ermöglichen, dass sie ein Einzelgrab bekommen. Die Angehörigen konnten sich nicht verabschieden, wie sich das gehört. Die Stimmung war bedrückend.
Sie lehren auch Ethik in der Medizin: Wo sind ethische Regeln eventuell verletzt worden?
Wir haben in den letzten Wochen und Monaten Intensivkapazitäten frei gehalten, die für viele Patientinnen und Patienten zu Einschränkungen bei wichtigen therapeutischen Maßnahmen oder Diagnostik geführt haben: Sie sind schlichtweg nicht an die Reihe gekommen. Ein Beispiel: Ein Patient hat eine neue Tumordiagnose und sollte schleunigst operiert werden. Der Patient hat diese OP nicht bekommen, sondern ist auf die Wartebank gesetzt worden. Diese Entwicklung muss man bei dieser Diskussion im Blick behalten: Durch die Sorge, dass plötzlich die gesamte Intensivkapazität für die Pandemie gebraucht wird, ist es in Deutschland zu einer schlechteren Versorgung im Gesundheitssystem gekommen. Das sollte in vielen Diskussionen angemessen reflektiert werden. Es gilt der Grundsatz: „Kein Mensch ist verhandelbar, jeder Mensch zählt gleich, weil jedes Menschen Würde
ist.“Deshalb darf ich nicht Mensch gegen Mensch werten.
Immer wieder wurde auch die Frage der Triage, also der Auswahl der Patienten bei knappen Ressourcen, diskutiert. Welchen Vorschlag haben Sie aus Sicht eines Medizinethikers?
Es gibt einen aus meiner Sicht überzeugenden Vorschlag der Notfallund Intensivmediziner gemeinsam mit unserer Akademie für Ethik in der Medizin, jetzt gefolgt von einer Empfehlung der Bundesärztekammer: 1. Fragt den Patienten, was er will. Das ist in der Medizin zentral und sollte im Praxisalltag selbstverständlich sein. 2. Dann gilt das Kriterium: Ist dieser Patient wirklich etwas für eine Intensivtherapie: ja oder nein? Da ist die
Einschätzung eines Intensivmediziners zentral. 3. Hat dieser Patient etwas von der Intensivtherapie: ja oder nein? Es geht um die Frage: Was hat der Patient davon, dass er jetzt Intensivtherapie bekommt? Und wenn man gemeinschaftlich mit der Orientierung auf das MehrAugen-Prinzip vorgeht, dann sollte man die Pflege und die Ethik dazu nehmen. Dann, glaube ich, kommt es zu einer wohlüberlegten Entscheidung.
Eine Frage nach der Zukunft: Bei knappen Ressourcen wird sich möglicherweise die Frage nach der Verteilung des Impfstoffs stellen. Was sagt der Medizinethiker zu dieser Frage?
Ich würde systematisch und analog vorgehen. Ich würde die Partizipation des Individuums in den Vorderunantastbar grund stellen. Wer will überhaupt geimpft werden? Man sollte nicht davon ausgehen, dass alle geimpft werden wollen. Dann sollte man Gruppen definieren, die ihn eher bräuchten: Risikogruppierungen, Patientinnen und Patienten mit Vorerkrankungen. Man muss fragen: Wer hat aktuell am meisten von dieser Impfung? Wir können nicht nach Geldbörse, nach Geschlecht oder nach Alter oder nach Hautfarbe entscheiden. Wir sind ein solidarisches Gesundheitssystem. Wir sind eine demokratische Zivilkultur, die sich auf gewisse Pflichten und Rechte verständigt hat. Insofern wird man über einen bestimmten Entscheidungsalgorithmus nachdenken.
Lassen Sie uns auf die politische Entwicklung schauen. Sind die Einschränkungen der Persönlichkeitsrechte auch schon dem Verfall der politischen Sitten zuzurechnen?
Sittenverfall ist ein hochtrabendes Wort. Aber es gilt: Mit den freiheitsbeund -einschränkenden Maßnahmen müssen wir sehr vorsichtig umgehen. Das kann dazu führen, dass die Sitten tatsächlich schnell verfallen. Denn wir sehen: Plötzlich treten rechtsnationale Gruppierungen, wenn nicht sogar Rechtsextreme, auf und fordern bei Kundgebungen, mit den freiheitsbeschränkenden Maßnahmen vorsichtig zu sein. Die Ansage ist zwar grundsätzlich richtig. Aber wenn dieser Gedanke plötzlich sogar rechtsnational oder rechtsextrem genutzt wird, um Stimmung zu machen, dann ist das unappetitlich und abzulehnen.
Wir haben im Lockdown erlebt, dass die Freiheitsrechte, für die wir als Zivilgesellschaft gekämpft haben und die wir selbstverständlich jeden Tag genießen, schnell eingeschränkt werden können. Diese Einschränkung erleben wir heute noch an gewissen Punkten. Ich selber fühle momentan nicht, dass die Freiheitsrechte in Deutschland für mich als Bürger zu stark eingeschränkt wären. Aber es gibt Einschränkungen, ganz klar. Und das würde ich schon mitnehmen: Die Wahrung der Freiheitsrechte ist ein wichtiges Thema.
Die Politik wandelt auf dem schmalen Grat zwischen Schutz der Bevölkerung und den Forderungen aus der Wirtschaft nach Lockerung. Ist es ethisch vertretbar, beide Aspekte gegeneinander auszuspielen?
Natürlich ist es für viele sehr eng jetzt, auch finanziell. Und es sind viele Existenzen gefährdet. Daher ist es für Politiker sicherlich sehr schwierig, momentan das Richtige zu tun. Die einen schreien nach Öffnung. Dadurch wird hoffentlich die Wirtschaft gestärkt. Ich sage hoffentlich, denn man weiß das nicht genau. Auf der anderen Seite werden dadurch die Infektionswege wieder dichter. Das heißt: Die Zahl der Infektionen wird steigen. Das ist für die meisten wahrscheinlich ungefährlich. Aber es wird immer einige treffen, für die das sehr ernst wird und sehr gefährlich ist. Wer will das eigentlich verantworten? Also wer möchte die Verantwortung dafür übernehmen?
Ein anderer Aspekt zum Stichwort Sittenverfall: Wir erleben eine Diskussion nach Äußerungen prominenter Politiker, die gesagt haben: Was nutzt es mir, wenn ich die ganzen Menschen vor der Infektion schütze, wenn danach die Wirtschaft brachliegt?
Nochmals: Die Würde des Menschen ist unantastbar, wir dürfen nicht Menschen gegen Menschen aufrechnen. Wir sind eine starke Industrienation. So schnell werden wir nicht in Zustände rutschen, die unser Leben komplett wirtschaftlich auf den Kopf stellen. Natürlich müssen wir den Mittelstand schützen und Geringverdiener oder Niedriglohnverdiener unterstützen. Aber bitte mit dem gebotenen Schutz, der notwendig ist.
Wo haben Sie gefährliche Diskussionen erlebt?
Wir haben Diskussionen um Lockerungen für die Jungen geführt, die Alten sollten zu Hause bleiben. Sehr viele Ältere haben sich sehr rasch gemeldet. Ich sage: So geht das nicht. Wir können keine systematische Diskriminierung aufgrund des Alters vornehmen.
Und wo heben Sie die Hand und warnen?
Wir müssen vorsichtig sein. Wir haben zuletzt eine Verordnung nach der anderen zugelassen. Zum Beispiel das Infektionsschutzgesetz: In den falschen Händen ist das gefährlich, weil es politisch enorm viel möglich macht. Es ist gut, dass wir hier ein Parlament haben, das aufpasst.
Die Kirchen spielen eine Sonderrolle: Die Religionsfreiheit gehört zu den Grundrechten, wurde aber durch das Gottesdienstverbot drastisch eingeschränkt. War das richtig und zulässig?
Die Religionsausübung einzuschränken, halte ich für problematisch. Das ist einfach ein Grundrecht. Und wenn wir an die Grundrechte gehen, dann wird es richtig eng. Das kann nur eine Zeit lang Bestand haben. Und die Maßnahmen müssen immer wieder überprüft werden, ob sie standhalten.