Scharfe Debatte um die Entschärfung der Verschärfung
Strengere Regelungen zu Fahrverboten für Temposünder zeigen erste Auswirkungen – Gegner reden von „Führerschein-Vernichtungsmaschine“und verlangen ihre Abschaffung
Kerstin Weiß aus Bonn legt bei der Frage die Stirn in Falten: „Wie jetzt? Die verschärften Straßenverkehrsregeln sollen wieder entschärft werden?“Sie dreht den Kopf und ruft ihrem Mann zu, der gerade an der Zapfsäule den silbernen Audi betankt: „Günther, weißt du da was?“Günther – Typ Aktiv-Rentner mit reiselustiger Unrast, fast schlanke Statur, Jeans, hellblaues Polohemd und Outdoor-Kittel – weiß Bescheid. „Ja, der neueste Coup von dem Scheuer.“Er fahre zwar gerne Auto, aber die zunehmende Rücksichtslosigkeit mache ihm und seiner Frau doch zu schaffen. Strengere Gesetze, wie seit
28. April 2020 in Kraft getreten, habe es viel früher schon gebraucht. „Meine Frau fährt nur noch ganz ungern“, sagt Günther, lächelt und gerät ein bisschen vom Hundertsten ins Tausendste. Früher habe er als Handelsvertreter gearbeitet, „40 000 Kilometer pro Jahr“, das könne er sich heute gar nicht mehr vorstellen. „Ich finde, man sollte das Gesetz so lassen. Oder noch mehr verschärfen. Das Ausland lacht sich sowieso tot über unseren Bußgeldkatalog“, glaubt Günther, der jetzt hurtig zum Zahlen in die Raststätte Illertal Ost an der A 7 spurtet. So flott, dass seine Frau Kerstin ihn an die Gesichtsmaske erinnern muss, die er fast vergessen hätte.
Die Vorlage zur Novellierung der Straßenverkehrsordnung (StVO) aus dem Hause des Bundesverkehrsministers, CSU-Mann Andreas Scheuer, war zunächst moderater, als sie dann tatsächlich in Kraft getreten ist. Der Bundesrat, also die Mehrheit der Länder, hatte die Aktualisierung des Gesetzes verschärft. Der wesentliche Kritikpunkt an der veränderten StVO: Seit 28. April braucht es deutlich weniger, um wegen zu schnellen Fahrens den Führerschein zu verlieren. Aktuell genügen für ein einmonatiges Fahrverbot 21 Kilometer pro Stunde zu viel innerorts und 26 außerhalb von Ortschaften. Zum Vergleich: Vor der Verschärfung musste man für die gleiche Sanktion innerorts schon 31 km/h zu schnell sein – also zum Beispiel in einer 30erZone doppelt so schnell fahren wie erlaubt. Außerorts schnappte die Führerscheinfalle sogar erst bei 41 km/h zu viel zu – etwa wenn ein Fahrer bei einer Begrenzung auf 70 km/h mit mindestens 110 unterwegs war. Die Bußgelder haben sich bis zur Überschreitung von 20 km/h verdoppelt: Wer zwischen 16 und 20 km/h zu schnell ist, zahlt außerorts 60 Euro Buße, innerorts 70 Euro.
Kritik an dem Gesetz kommt außer von FDP und AfD vor allem vom Verein „Mobil in Deutschland“. Der Automobilclub hat sich an die Spitze des Protests gesetzt und eine Petition dagegen angestoßen. Die gesammelten Unterschriften bisher: „158 235!“, sagt der Präsident des Vereins, Michael Haberland, am Telefon und spricht im Zusammenhang mit der Novelle gar von einer „Führerschein-Vernichtungsmaschine“. Die Novelle sei in bestimmten Teilen „komplett unverhältnismäßig“. „Sie machen ja die Straßen nicht sicherer, indem sie die Strafen erhöhen“, glaubt
Haberland, dessen Automobilclub mit etwa 10 000 Mitgliedern eher zu den kleineren gehört. Seine Sicht auf die Dinge ist klar: „Eigentlich hätten wir das Jahr 2019 feiern müssen: Noch nie hat es so wenige Verletzte und Tote im Verkehr gegeben.“Aber anstatt sich für die „gute Situation“auf deutschen Straßen selbst auf die Schulter zu klopfen, erhöhe man die Strafen. „Das ist ziemlich bitter – und das Klima wird dadurch nicht besser, sondern aggressiver“, sagt Haberland, der außerdem eine einseitige Bevorzugung von Fahrradfahrern kritisiert. Ein Fortbewegungsmittel, das „als Verkehrsträger fast keine Rolle spielt“. Und er identifiziert auch einen der Schuldigen hinter der Entwicklung: „Der Höllenhund im Verkehrsministerium“, schimpft Haberland. Gemeint ist Baden-Württembergs
Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne).
Hermanns Ministerium teilt auf Anfrage der „Schwäbischen Zeitung“unmissverständlich mit: „Die Wirkungszusammenhänge zwischen Kontrolldruck, Sanktionshöhe und Verhaltensänderung sind wissenschaftlich erwiesen. Das Verkehrsministerium hält daher an den erst vor wenigen Wochen in Kraft getretenen Regelungen fest. Die zuständigen Bußgeldbehörden wurden bereits gebeten, von den Sanktionsmöglichkeiten zur Steigerung der Verkehrssicherheit in vollem Umfang Gebrauch zu machen.“Der Bundesverkehrsminister solle entsprechend der Verkehrsminister der Länder daran arbeiten, das Sanktionsniveau für Verkehrsordnungswidrigkeiten mit besonderem Gefährdungspotenzial weiter anzuheben, statt eben erst in Kraft getretene Regelungen wieder infrage zu stellen. Und weiter: „Eine Rücknahme der schon seit Langem fälligen Verschärfungen wäre ein Rückschlag für die Verkehrssicherheit und ein völlig falsches Signal an Raser. Wer in der 30er-Zone mit über 59 km/h (30+21+8 km/h Mess- und Ahndungstoleranz) unterwegs ist, verdient keine Nachsicht, sondern einen Denkzettel.“
Welche Auswirkungen das aktuelle Gesetz real auf die Straßensituation hat, darauf kann zum Beispiel das Polizeipräsidium Ravensburg bislang nur mit vagen Einschätzungen antworten. Auf Anfrage der „Schwäbischen Zeitung“heißt es aus der Presseabteilung aber: „Es zeichnet sich ab, dass zumindest kurzfristig eine höhere Anzahl von Fahrverboten verhängt wird.“Genaue Zahlen sind noch nicht erhoben. Dafür ist der Betrachtungszeitraum noch zu kurz. Die Beamten spüren allerdings Veränderungen: „Im Rahmen der Verkehrsüberwachung kann ein verändertes, regelkonformeres Fahrverhalten festgestellt werden. Inwieweit dies dauerhaft anhalten wird, bleibt abzuwarten.“Die „Augsburger Allgemeine“meldet für den bayerischen Regierungsbezirk Schwaben indes eine drastische Zunahme an einkassierten Führerscheinen: Demnach haben im Mai 835 Temposünder die Fahrerlaubnis verloren – gut viermal so viele wie im Vorjahreszeitraum.
Auch wenn die ersten Eindrücke der Polizei im Bezirk Ravensburg in der Praxis nur eine Tendenz offenbaren und noch nicht auf die längerfristige Wirkung schließen lassen, ist ein „regelkonformeres Fahrverhalten“an sich keine schlechte Nachricht. Im internationalen Vergleich zeigt etwa die Schweiz, dass drastische Verschärfungen von Strafen selbst vor dem Hintergrund bereits eng gefasster Tempolimits den zusätzlichen Rückgang von schweren Unfällen und Verkehrstoten bedeuten können – wobei Deutschland von helvetischen Maßnahmen wie Fahrzeugentzug oder Haftandrohung Lichtjahre entfernt ist.
Auf Anfrage der „Schwäbischen Zeitung“im Bundesverkehrsministerium, welche Fehler in der Novelle nach so kurzer Zeit wieder eine Entschärfung rechtfertigen, sendet die Presseabteilung verschiedene Statements und verweist auf Stellungnahmen von Minister Scheuer. Wesentliche Aussage: „Der ursprüngliche
Entwurf des
Bundesverkehrsministeriums zur StVONovelle sah keine Verschärfungen für das Überschreiten der zulässigen Höchstgeschwindigkeit vor. Erst durch einstimmigen Beschluss der Länder im Bundesratsverfahren kam diese Änderung in die Novelle: Die Länder hatten Verschärfungen bei den Bußgeldern und Fahrverboten eingebracht. Grundsätzlich sieht das Bundesratsverfahren vor: Das Bundesverkehrsministerium konnte die StVO-Novelle in dieser – vom Bundesrat beschlossenen – Form ausschließlich als Gesamtpaket annehmen oder aber – ebenfalls in Gänze – ablehnen. Letzteres hätte jedoch bedeutet: Die StVO-Novelle und damit auch die vielen Verbesserungen für mehr Verkehrssicherheit, speziell für Radfahrende, hätten nicht in Kraft treten können.“
Der ADAC als größter deutscher Automobilclub unterstützt den Bundesverkehrsminister in seinem Bemühen, die Verschärfungen wieder zu kassieren. Auf Anfrage der „Schwäbischen Zeitung“teilt der Verein mit: „Der ADAC begrüßt Meldungen, nach denen Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer die Novelle überarbeiten will. Vor allem Geschwindigkeitsverstöße werden unverhältnismäßig hart bestraft. Durch die Neuregelung gingen die seit Jahren bewährte Differenzierung in leichte, mittlere und grobe Verkehrsverstöße und damit das Gleichgewicht aus Geldbußen, Punkten und Fahrverboten verloren. Hier macht eine stärkere Differenzierung Sinn.“
Der Plan des Bundesverkehrsministers wird ohne die Zustimmung im Bundesrat allerdings nicht aufgehen. Doch an vielen Landesregierungen sind die Grünen beteiligt – und deren Haltung zu Scheuers „Rolle rückwärts“ist klar: Sie wollen an der jetzigen Regelung festhalten. Die „Neue Osnabrücker Zeitung“hatte Mitte Mai die Landesverkehrsministerien befragt. Demnach fehlt dem Bundesverkehrsminister in der Länderkammer die nötige Mehrheit, um in Sachen Fahrverbote für Raser wieder zum alten Modus zurückzukehren.
Der kleine Spaziergang an der Raststätte Illertal, wo das Ehepaar Weiß inzwischen wieder Richtung Heimat aufgebrochen ist, zeigt indes keine klare Meinungstendenz: Jüngere neigen bei diesem natürlich nicht repräsentativen Stimmungsbild zwischen Parkplatz und Zapfsäule dazu, die Verschärfung abzulehnen. Die meisten Älteren finden sie richtig. Es dauert wegen der noch geltenden Reisebeschränkungen lange, bis sich die Gelegenheit bietet, einen Autofahrer aus der Schweiz zu befragen. Für den Herrn mit dem Zürcher Kennzeichen am Wagen ist die Diskussion in Deutschland skurril, denn in seiner Heimat gelten deutlich strengere sogenannte RaserGesetze: „Wenn Sie bei uns auf der Landstraße 120 fahren, dann ist nicht nur der Führerschein weg, sondern auch Ihr Auto.“Erlaubt sind in der Schweiz außerorts 80 km/h. Wer in der Schweiz rast, muss sogar mit einer Gefängnisstrafe rechnen – je nach Sachlage ohne Bewährung. Der Herr aus Zürich gibt an, dass er es schon genieße, in Deutschland „ein bisschen zügiger“fahren zu dürfen, er lächelt. In seiner Heimat gilt Tempo 120 auf den Autobahnen.
Ein Autofahrer aus der Schweiz
„Wenn Sie bei uns auf der Landstraße 120 fahren, dann ist nicht nur der Führerschein weg, sondern auch Ihr Auto.“