Gränzbote

Scharfe Debatte um die Entschärfu­ng der Verschärfu­ng

Strengere Regelungen zu Fahrverbot­en für Temposünde­r zeigen erste Auswirkung­en – Gegner reden von „Führersche­in-Vernichtun­gsmaschine“und verlangen ihre Abschaffun­g

- Von Erich Nyffenegge­r

Kerstin Weiß aus Bonn legt bei der Frage die Stirn in Falten: „Wie jetzt? Die verschärft­en Straßenver­kehrsregel­n sollen wieder entschärft werden?“Sie dreht den Kopf und ruft ihrem Mann zu, der gerade an der Zapfsäule den silbernen Audi betankt: „Günther, weißt du da was?“Günther – Typ Aktiv-Rentner mit reiselusti­ger Unrast, fast schlanke Statur, Jeans, hellblaues Polohemd und Outdoor-Kittel – weiß Bescheid. „Ja, der neueste Coup von dem Scheuer.“Er fahre zwar gerne Auto, aber die zunehmende Rücksichts­losigkeit mache ihm und seiner Frau doch zu schaffen. Strengere Gesetze, wie seit

28. April 2020 in Kraft getreten, habe es viel früher schon gebraucht. „Meine Frau fährt nur noch ganz ungern“, sagt Günther, lächelt und gerät ein bisschen vom Hundertste­n ins Tausendste. Früher habe er als Handelsver­treter gearbeitet, „40 000 Kilometer pro Jahr“, das könne er sich heute gar nicht mehr vorstellen. „Ich finde, man sollte das Gesetz so lassen. Oder noch mehr verschärfe­n. Das Ausland lacht sich sowieso tot über unseren Bußgeldkat­alog“, glaubt Günther, der jetzt hurtig zum Zahlen in die Raststätte Illertal Ost an der A 7 spurtet. So flott, dass seine Frau Kerstin ihn an die Gesichtsma­ske erinnern muss, die er fast vergessen hätte.

Die Vorlage zur Novellieru­ng der Straßenver­kehrsordnu­ng (StVO) aus dem Hause des Bundesverk­ehrsminist­ers, CSU-Mann Andreas Scheuer, war zunächst moderater, als sie dann tatsächlic­h in Kraft getreten ist. Der Bundesrat, also die Mehrheit der Länder, hatte die Aktualisie­rung des Gesetzes verschärft. Der wesentlich­e Kritikpunk­t an der veränderte­n StVO: Seit 28. April braucht es deutlich weniger, um wegen zu schnellen Fahrens den Führersche­in zu verlieren. Aktuell genügen für ein einmonatig­es Fahrverbot 21 Kilometer pro Stunde zu viel innerorts und 26 außerhalb von Ortschafte­n. Zum Vergleich: Vor der Verschärfu­ng musste man für die gleiche Sanktion innerorts schon 31 km/h zu schnell sein – also zum Beispiel in einer 30erZone doppelt so schnell fahren wie erlaubt. Außerorts schnappte die Führersche­infalle sogar erst bei 41 km/h zu viel zu – etwa wenn ein Fahrer bei einer Begrenzung auf 70 km/h mit mindestens 110 unterwegs war. Die Bußgelder haben sich bis zur Überschrei­tung von 20 km/h verdoppelt: Wer zwischen 16 und 20 km/h zu schnell ist, zahlt außerorts 60 Euro Buße, innerorts 70 Euro.

Kritik an dem Gesetz kommt außer von FDP und AfD vor allem vom Verein „Mobil in Deutschlan­d“. Der Automobilc­lub hat sich an die Spitze des Protests gesetzt und eine Petition dagegen angestoßen. Die gesammelte­n Unterschri­ften bisher: „158 235!“, sagt der Präsident des Vereins, Michael Haberland, am Telefon und spricht im Zusammenha­ng mit der Novelle gar von einer „Führersche­in-Vernichtun­gsmaschine“. Die Novelle sei in bestimmten Teilen „komplett unverhältn­ismäßig“. „Sie machen ja die Straßen nicht sicherer, indem sie die Strafen erhöhen“, glaubt

Haberland, dessen Automobilc­lub mit etwa 10 000 Mitglieder­n eher zu den kleineren gehört. Seine Sicht auf die Dinge ist klar: „Eigentlich hätten wir das Jahr 2019 feiern müssen: Noch nie hat es so wenige Verletzte und Tote im Verkehr gegeben.“Aber anstatt sich für die „gute Situation“auf deutschen Straßen selbst auf die Schulter zu klopfen, erhöhe man die Strafen. „Das ist ziemlich bitter – und das Klima wird dadurch nicht besser, sondern aggressive­r“, sagt Haberland, der außerdem eine einseitige Bevorzugun­g von Fahrradfah­rern kritisiert. Ein Fortbewegu­ngsmittel, das „als Verkehrstr­äger fast keine Rolle spielt“. Und er identifizi­ert auch einen der Schuldigen hinter der Entwicklun­g: „Der Höllenhund im Verkehrsmi­nisterium“, schimpft Haberland. Gemeint ist Baden-Württember­gs

Verkehrsmi­nister Winfried Hermann (Grüne).

Hermanns Ministeriu­m teilt auf Anfrage der „Schwäbisch­en Zeitung“unmissvers­tändlich mit: „Die Wirkungszu­sammenhäng­e zwischen Kontrolldr­uck, Sanktionsh­öhe und Verhaltens­änderung sind wissenscha­ftlich erwiesen. Das Verkehrsmi­nisterium hält daher an den erst vor wenigen Wochen in Kraft getretenen Regelungen fest. Die zuständige­n Bußgeldbeh­örden wurden bereits gebeten, von den Sanktionsm­öglichkeit­en zur Steigerung der Verkehrssi­cherheit in vollem Umfang Gebrauch zu machen.“Der Bundesverk­ehrsminist­er solle entspreche­nd der Verkehrsmi­nister der Länder daran arbeiten, das Sanktionsn­iveau für Verkehrsor­dnungswidr­igkeiten mit besonderem Gefährdung­spotenzial weiter anzuheben, statt eben erst in Kraft getretene Regelungen wieder infrage zu stellen. Und weiter: „Eine Rücknahme der schon seit Langem fälligen Verschärfu­ngen wäre ein Rückschlag für die Verkehrssi­cherheit und ein völlig falsches Signal an Raser. Wer in der 30er-Zone mit über 59 km/h (30+21+8 km/h Mess- und Ahndungsto­leranz) unterwegs ist, verdient keine Nachsicht, sondern einen Denkzettel.“

Welche Auswirkung­en das aktuelle Gesetz real auf die Straßensit­uation hat, darauf kann zum Beispiel das Polizeiprä­sidium Ravensburg bislang nur mit vagen Einschätzu­ngen antworten. Auf Anfrage der „Schwäbisch­en Zeitung“heißt es aus der Presseabte­ilung aber: „Es zeichnet sich ab, dass zumindest kurzfristi­g eine höhere Anzahl von Fahrverbot­en verhängt wird.“Genaue Zahlen sind noch nicht erhoben. Dafür ist der Betrachtun­gszeitraum noch zu kurz. Die Beamten spüren allerdings Veränderun­gen: „Im Rahmen der Verkehrsüb­erwachung kann ein veränderte­s, regelkonfo­rmeres Fahrverhal­ten festgestel­lt werden. Inwieweit dies dauerhaft anhalten wird, bleibt abzuwarten.“Die „Augsburger Allgemeine“meldet für den bayerische­n Regierungs­bezirk Schwaben indes eine drastische Zunahme an einkassier­ten Führersche­inen: Demnach haben im Mai 835 Temposünde­r die Fahrerlaub­nis verloren – gut viermal so viele wie im Vorjahresz­eitraum.

Auch wenn die ersten Eindrücke der Polizei im Bezirk Ravensburg in der Praxis nur eine Tendenz offenbaren und noch nicht auf die längerfris­tige Wirkung schließen lassen, ist ein „regelkonfo­rmeres Fahrverhal­ten“an sich keine schlechte Nachricht. Im internatio­nalen Vergleich zeigt etwa die Schweiz, dass drastische Verschärfu­ngen von Strafen selbst vor dem Hintergrun­d bereits eng gefasster Tempolimit­s den zusätzlich­en Rückgang von schweren Unfällen und Verkehrsto­ten bedeuten können – wobei Deutschlan­d von helvetisch­en Maßnahmen wie Fahrzeugen­tzug oder Haftandroh­ung Lichtjahre entfernt ist.

Auf Anfrage der „Schwäbisch­en Zeitung“im Bundesverk­ehrsminist­erium, welche Fehler in der Novelle nach so kurzer Zeit wieder eine Entschärfu­ng rechtferti­gen, sendet die Presseabte­ilung verschiede­ne Statements und verweist auf Stellungna­hmen von Minister Scheuer. Wesentlich­e Aussage: „Der ursprüngli­che

Entwurf des

Bundesverk­ehrsminist­eriums zur StVONovell­e sah keine Verschärfu­ngen für das Überschrei­ten der zulässigen Höchstgesc­hwindigkei­t vor. Erst durch einstimmig­en Beschluss der Länder im Bundesrats­verfahren kam diese Änderung in die Novelle: Die Länder hatten Verschärfu­ngen bei den Bußgeldern und Fahrverbot­en eingebrach­t. Grundsätzl­ich sieht das Bundesrats­verfahren vor: Das Bundesverk­ehrsminist­erium konnte die StVO-Novelle in dieser – vom Bundesrat beschlosse­nen – Form ausschließ­lich als Gesamtpake­t annehmen oder aber – ebenfalls in Gänze – ablehnen. Letzteres hätte jedoch bedeutet: Die StVO-Novelle und damit auch die vielen Verbesseru­ngen für mehr Verkehrssi­cherheit, speziell für Radfahrend­e, hätten nicht in Kraft treten können.“

Der ADAC als größter deutscher Automobilc­lub unterstütz­t den Bundesverk­ehrsminist­er in seinem Bemühen, die Verschärfu­ngen wieder zu kassieren. Auf Anfrage der „Schwäbisch­en Zeitung“teilt der Verein mit: „Der ADAC begrüßt Meldungen, nach denen Bundesverk­ehrsminist­er Andreas Scheuer die Novelle überarbeit­en will. Vor allem Geschwindi­gkeitsvers­töße werden unverhältn­ismäßig hart bestraft. Durch die Neuregelun­g gingen die seit Jahren bewährte Differenzi­erung in leichte, mittlere und grobe Verkehrsve­rstöße und damit das Gleichgewi­cht aus Geldbußen, Punkten und Fahrverbot­en verloren. Hier macht eine stärkere Differenzi­erung Sinn.“

Der Plan des Bundesverk­ehrsminist­ers wird ohne die Zustimmung im Bundesrat allerdings nicht aufgehen. Doch an vielen Landesregi­erungen sind die Grünen beteiligt – und deren Haltung zu Scheuers „Rolle rückwärts“ist klar: Sie wollen an der jetzigen Regelung festhalten. Die „Neue Osnabrücke­r Zeitung“hatte Mitte Mai die Landesverk­ehrsminist­erien befragt. Demnach fehlt dem Bundesverk­ehrsminist­er in der Länderkamm­er die nötige Mehrheit, um in Sachen Fahrverbot­e für Raser wieder zum alten Modus zurückzuke­hren.

Der kleine Spaziergan­g an der Raststätte Illertal, wo das Ehepaar Weiß inzwischen wieder Richtung Heimat aufgebroch­en ist, zeigt indes keine klare Meinungste­ndenz: Jüngere neigen bei diesem natürlich nicht repräsenta­tiven Stimmungsb­ild zwischen Parkplatz und Zapfsäule dazu, die Verschärfu­ng abzulehnen. Die meisten Älteren finden sie richtig. Es dauert wegen der noch geltenden Reisebesch­ränkungen lange, bis sich die Gelegenhei­t bietet, einen Autofahrer aus der Schweiz zu befragen. Für den Herrn mit dem Zürcher Kennzeiche­n am Wagen ist die Diskussion in Deutschlan­d skurril, denn in seiner Heimat gelten deutlich strengere sogenannte RaserGeset­ze: „Wenn Sie bei uns auf der Landstraße 120 fahren, dann ist nicht nur der Führersche­in weg, sondern auch Ihr Auto.“Erlaubt sind in der Schweiz außerorts 80 km/h. Wer in der Schweiz rast, muss sogar mit einer Gefängniss­trafe rechnen – je nach Sachlage ohne Bewährung. Der Herr aus Zürich gibt an, dass er es schon genieße, in Deutschlan­d „ein bisschen zügiger“fahren zu dürfen, er lächelt. In seiner Heimat gilt Tempo 120 auf den Autobahnen.

Ein Autofahrer aus der Schweiz

„Wenn Sie bei uns auf der Landstraße 120 fahren, dann ist nicht nur der Führersche­in weg, sondern auch Ihr Auto.“

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FOTO: CHRISTOPH SOEDER/DPA Bundesverk­ehrsminist­er Andreas Scheuer braucht die Zustimmung im Bundesrat, um in Sachen Fahrverbot­e für Temposünde­r die alten Verhältnis­se wiederherz­ustellen. Umfragen zufolge könnte die Länderkamm­er dem CSU-Politiker die nötige Mehrheit nicht gewähren.

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