„Wir haben noch Riesenpotenzial!“
Heidenheim-Boss Holger Sanwald über den Aufstieg, das Duell gegen den HSV und die Kontinuität seines Clubs
HEIDENHEIM - Ein Sieg am Sonntag im Spitzenspiel gegen den ZweitligaDritten Hamburger SV (15.30/Sky), und der 1. FC Heidenheim wäre vor dem Finale bei Aufsteiger Bielefeld erstmals in dieser Saison auf Rang drei. Nie war die Chance, erstmals ins Oberhaus aufzusteigen, so groß wie jetzt. „Schon 1994 war mir klar: Bundesliga, da will ich mal hin“, sagt Vorstandschef Holger Sanwald (53) im Gespräch mit Jürgen Schattmann. Damals war der FCH in der Landesliga.
Herr Sanwald, Marc Schnatterer, Ihr Anführer auf dem Feld, hat gerade eingeräumt, sein Vater sei HSVFan. Wie ist das in Ihrer Familie und in Ihrem Freundeskreis?
Da ist kein Mensch HSV-Fan, die sind alle für uns. Oder eben für Bayern, Dortmund oder den VfB, das Übliche. Aber HSV-Fans gibt es da gewiss keine (lacht). Klar ist: Die ganze Stadt, die ganze Region fiebert auf das Spiel gegen Hamburg am Sonntag hin, alle stehen hinter uns. Und ich bin nicht einmal nervös. Einfach nur voller Vorfreude.
Es wird wie im Pokal: Wenn Sie verlieren, sind Sie draußen, wenn Sie siegen, haben Sie beste Chancen, zumindest die Relegation zu spielen.
Das ist durchaus vergleichbar. Es ist ein 50:50-Match. Und es geht um alles oder nichts. Und in unserer Pokalhistorie haben wir ja beste Erfahrungen gemacht. Wir haben Leverkusen und Bremen geschlagen, gegen Gladbach erst im Elfmeterschießen verloren. Und beim FC Bayern beim 5:4 im Viertelfinale letztes Jahr, als Robert Glatzel drei Tore schoss, sind wir nur durch einen aus meiner Sicht unberechtigten Elfmeter rausgeflogen.
Die Szene mit Lewandowski ...
Der hat den Marnon Busch so weggeschoben, dass dem der Ball an den Arm springt. Das war niemals Elfmeter, nie im Leben. Das hätte ich mal sehen wollen, hätte es damals Elfmeterschießen gegeben. Neuer war ja verletzt. Daran denke ich noch heute oft.
Und wann haben Sie zum ersten Mal an die erste Liga gedacht? Vor vier Wochen? Oder 2019, als Sie ebenfalls lange Zeit oben mitspielten?
1994. Als ich anfing, als Abteilungsleiter in der Landesliga, war mir klar: Bundesliga, da will ich mal hin. Warum auch nicht? Kaiserslautern hat 100 000 Einwohner, liegt in einer eher strukturschwachen Region und war Meister. Warum soll man immer klein denken, sich mit wenig zufriedengeben? Warum sich Grenzen setzen, sich limitieren lassen oder selbst limitieren? Das wäre doch falsch. Vor allem, wenn man wie wir in einer Region lebt, die eine der wirtschaftlich stärksten in ganz Europa ist. Ich weiß nicht, warum wir Schwaben uns immer so kleinmachen.
Stimmt, das geht schon los, wenn wir sagen: Des war it schlecht. Andere würden sagen: Das war geil.
Genau, wir sagen: It gschompfa isch gnuag globt. Wir dürfen doch stolz sein auf das, was wir hier haben: Vorzeigefirmen, Leute, die bodenständig sind, die schaffen wollen, die traditionelle Werte leben, für Kontinuität und Nachhaltigkeit stehen. Dafür stehen wir auch als Verein, das war von Anfang an klar, und damit haben wir auch unsere Sponsoren überzeugt.
Sie haben 500 mittelständische Firmen an Bord, das reicht bis ins tiefste Oberschwaben hinein. Wie machen Sie das? Akquirieren Sie die alle selbst oder haben Sie da eine Art Spezialeinsatzkommando?
Das Wort gefällt mir, im Prinzip haben wir das tatsächlich. Wir haben inzwischen acht junge Leute im Vertrieb, alle aus der Region, die die Sprache der Menschen von hier sprechen. Anfangs war ich tatsächlich noch oft an der Sponsorensuche beteiligt, inzwischen läuft das auch ohne mich. Wir sind da noch lange nicht fertig, wir haben noch Riesenpotenzial! Wir haben einen Gesamt-Etat von 35 Millionen Euro, aber da geht noch mehr.
In der ersten Liga wäre das Budget vermutlich doppelt so groß...
Sagen wir mal: 50 Millionen Euro plus. Aber da sind wir noch nicht. Wir sind zuerst mal glücklich, dass wir die Corona-Krise im Griff haben. Wir haben 13 000 Fans im Schnitt in der VoithArena, die vier Spiele ohne Zuschauer fehlen uns. Aber finanziell ist das auszuhalten, weil wir 8000 Dauerkartenbesitzer haben, und 90 Prozent dieser Inhaber haben auf die Rückzahlung von Geld verzichtet. Da war eine überwältigende Solidarität zu spüren.
Ihr Club ist also kerngesund?
Auch wir haben Verluste im Millionenbereich zu verzeichnen, durch den Rückgang der TV-Gelder und im Zuge der Krise. Das betrifft ja nicht nur diese Saison, auch die nächste. Auch bei uns waren weite Teile der Mitarbeiter im April und Mai in Kurzarbeit, und die Spieler haben von sich aus auf Geld verzichtet, damit wir den Mitarbeitern das Gehalt aufstocken konnten. Den Verlust werden wir durch Einsparungen, Kaderreduzierungen, vielleicht auch Spielerverkäufe wettmachen. Am besten wäre natürlich, wir würden aufsteigen, dann wäre Geld da zum Aufstocken.
Wer Ihren Kader analysiert und den des SC Freiburg, dem fällt auf: Sie haben beide fast nur deutschsprachige Spieler, kaum Ausländer, am besten jung, aus der Region. Kein Zufall, Integration ist einfacher, wenn man Deutsch spricht, oder?
Das ist natürlich Absicht, geplant, und hat nichts damit zu tun, dass wir etwas gegen Spieler aus dem Ausland hätten. Tatsache ist: Wenn man eine gemeinsame Sprache spricht, tut man sich überall leichter: auf dem Feld, beim Motivieren, beim Besprechen von Problemen, beim gegenseitigen Verständnis. Und man hat gemeinsame Wurzeln, man identifiziert sich eben automatisch mit der Region. Wir hatten auch schon Spieler, die aus weiter Ferne stammten, aber die taten sich schwer hier. Heidenheim ist eine Industriestadt mit 50 000 Einwohnern, jeder kennt jeden, jeder weiß über jeden Bescheid, das muss man mögen. Unser Spielmacher Niklas Dorsch etwa passt optimal hierher, das war mir fast klar. Er kam zwar vom FC Bayern, aber nicht aus München, er stammt aus einem kleinen Ort in Franken, das passt optimal.
Auf den sind ganz viele Erstligisten scharf, angeblich auch der HSV, Ihr Torjäger Tim Kleindienst dürfte auch einige Anfragen haben. Angst, dass Sie die Besten wieder verlieren?
Wenn wir aufsteigen, werden alle Leistungsträger bleiben, da bin ich mir ganz sicher. Die Spieler wissen, was sie an Heidenheim haben. Prinzipiell gilt: Angst habe ich nie. Bei Abgängen werden wir unserem Konzept treu bleiben. Wir holen keine Altstars, sondern schauen, ob wir die besten Talente aus der 2. und 3. Liga günstig bekommen können.
Das erinnert wieder an Freiburg. Ihr Club und der SC gelten inzwischen als Vorbild für den deutschen Fußball in puncto Kontinuität und Nachhaltigkeit. Sie hatten in den letzten 13 Jahren nur einen Coach und einen Manager, Ihre Rivalen HSV und VfB hatten jeweils rund 15 Trainer...
Es ist seltsam: Jahrelang nahm kaum einer Notiz von uns, offenbar waren wir vielen zu langweilig, da sitzen immer die gleichen Leute, hieß es. Jetzt plötzlich berichten alle über uns, auf einmal sind wir mit unseren Werten ein Vorbild an Nachhaltigkeit. Für uns ist das eine Bestätigung – und macht uns stolz. Freiburg ist tatsächlich unser Vorbild, das kann man offen sagen. Ich war 27, als ich gerade in der Landesliga anfing, da kam der SC zu einem Turnier zu uns, und ich konnte lange mit dem damaligen Trainer Volker Finke reden, er hat mir seine Sichtweise auf den Fußball erklärt. Das hat mich fasziniert – und in meinem Kopf etwas ausgelöst. Diesen Weg wollte ich auch gehen, und ehrlich gesagt: Es bleibt uns nichts anderes übrig. Ein anderes Konzept als unser jetziges ist für uns nicht denkbar. Wir können es uns nicht leisten, nach vier Niederlagen jedes Mal einen Trainer, von dem wir überzeugt sind, rauszuschmeißen. Wenn es nicht läuft, tauschen wir am Saisonende eben die Spieler aus, so lange, bis wir welche haben, die begreifen, dass es nur an ihnen liegt, dass sie sich selbst am Riemen reißen müssen. Unser ganzer sportlicher Erfolg fußt darauf, dass wir in all den Jahren klug gewirtschaftet haben. Wir haben rund 50 Millionen Euro in die VoithArena und die Trainingsanlage investiert – auch mit Krediten, aber solide finanziert, ohne viel Risiko. Der HSV und der VfB gingen zuletzt einen anderen Weg, aber das sind riesige Vereine aus Großstädten mit einer langen Geschichte. Die haben im Umfeld einen Wahnsinnsdruck. Die müssen in der ersten Liga spielen, wir wollen.