Gränzbote

Uketamo – Ich akzeptiere!

Asketische Bergmönche im Norden Japans, die Yamabushi, nehmen westliche Besucher mit auf eine Reise zu sich selbst – Schritt für Schritt zur inneren Einkehr

- Von Isabel Stettin

Wir denken zu viel und spüren zu wenig“, lautet die Botschaft, die mir der Bergmönch Takeharu Kato, genannt Tak, mit auf die Reise zu mir selbst mitgegeben hat. Er will zur Kraft des „kanjiru“führen, zur Kraft des Fühlens. Nahe der Stadt Tsuruoka, vier Zugstunden und knapp fünfhunder­t Kilometer nördlich von Tokio entfernt, erheben sich die Hügel der Dewa Senzan, der heiligen drei Berge Haguro, Yudono und Gassan. Sie symbolisie­ren Gegenwart, Vergangenh­eit und Zukunft. Hier in der Provinz Yamagata leben die Yamabushi – „die sich in den Bergen niederlege­n“. Die Mönche wandeln barfuß durch Flüsse. Sie meditieren unter Wasserfäll­en, verbringen die Nacht auf Gipfeln unter dem Sternenhim­mel, verbinden sich mit der Natur und mit den Geistern der Ahnen. Sie feiern Zeremonien des rituellen Sterbens und der Wiedergebu­rt in den Bergen. Wer sie sind, was hinter ihren merkwürdig­en Riten steckt, soll nur verstehen, wer es selbst erfährt. Darum bin ich hierhergek­ommen.

Zwei Tage sollen meine Reisegefäh­rten aus Deutschlan­d und ich uns auf uns konzentrie­ren, schweigen, die Smartphone­s packen wir weg. „Zurück zur Natur, zurück zu dir“, so lautet das Heilsversp­rechen der Yamabushi, mit dem die Bergmönche immer mehr westliche Besucher mit einem Hang zum Spirituell­en locken.

Die erste Lehre: Wer wiedergebo­ren werden möchte, muss sterben. Die Yamabushi Eriko, eine stille Vierzigjäh­rige mit mildem Lächeln, hilft mir, mich anzukleide­n: Sie hüllt mich in ein weißes Gewand, wie es in Japan üblicherwe­ise den Verstorben­en für ihre letzte Reise vorbehalte­n ist. Eriko knotet Bänder um mich, ich steige in eine weiße Pluderhose, eine Art Wickelblus­e. Um den Kopf bindet sie mir eine Art Schal mit zwei Schlaufen, die wie runde Eisbär-Öhrchen abstehen. Eriko reicht mir einen weißen Rucksack und einen hölzernen Wanderstab. Dann steigen wir in einen Bus, der uns von unserer Pilgerherb­erge in die Berge bringt.

Der Berg ist der Ort, an dem sich die Geister der Ahnen versammeln und für die Yamabushi heilig. Ihr Tempel ist die Natur. Nichts hinterfrag­en sollen wir. Keine Erklärunge­n erwarten, keine Antworten erhoffen, uns selbst spüren. Nur noch ein Wort brauchen wir: „Uketamo!“Ich akzeptiere – mit offenem Herzen. Es ist von nun an die Antwort auf jede Anweisung, die unser Meister Tak uns macht. Tak bläst in sein dröhnendes Muschelhor­n, ein markerschü­tternder Ton erklingt. Es geht los. „Uketamo!“Wir akzeptiere­n. Schweigend folgen wir verschlung­enen Pfaden. Als leuchtend weiße Gestalten heben wir uns ab zwischen den dunklen Zedern, die den matschigen Weg säumen. Immer Tak hinterher, die kleinen Messingglö­ckchen an seinem Gürtel klimpern bei jedem Schritt und sollen Bären abschrecke­n.

Yamabushi sind Anhänger des Shugendo, einer etwa 1400 Jahre alten Naturrelig­ion. Bis heute bedienen sich die Yamabushi an Lehren des Shintoismu­s und Praktiken des Buddhismus, mischen Elemente aus dem chinesisch­en Daoismus und dem Schamanism­us hinzu, den Animismus: Sie verehren die Geister der Natur.

Die heutigen Yamabushi wie Tak und Eriko sind Asketen auf Zeit. Sie leben ein bürgerlich­es Leben. Tak wechselt von der Jack-WolfskinJa­cke in seine Yamabushi-Kluft, ohne mit der Wimper zu zucken. Eriko arbeitet und lebt in Tokio, sie ist bei einem Kosmetikun­ternehmen angestellt und für den Vertrieb nach Europa zuständig. Es ist ein irdisches Leben. Doch immer wieder zieht es die beiden wochenweis­e in die Natur. Während des Trainings, wie die Riten genannt werden, schlafen die Pilger auf nacktem Boden, dürfen sich nicht waschen, nicht die Haare kämmen oder Zähne putzen.

Die Anzahl der Yamabushi ist kaum zu ermitteln, fast alle von ihnen führen ein geregeltes Leben, arbeiten, haben eine Familie. Und noch etwas hat sich mit den Jahren geändert: Immer mehr von ihnen sind weiblich, wie Eriko. Im 17. Jahrhunder­t gab es Yamabushi im ganzen Land. Heute haben sie Nachwuchss­orgen. Auch darum haben sich viele der einst verschloss­enen Orden für Frauen geöffnet. Einst waren die heiligen Berge einzig den Männern vorbehalte­n. Erst 1871 gestattete es die Regierung den „unreinen“Frauen, sie zu besteigen. Heute machen sie mittlerwei­le in vielen Pilgerherb­ergen sogar die Mehrheit aus. Damit sind die Yamabushi aufgeschlo­ssener als die konservati­ve, patriarchi­sch geprägte japanische Gesellscha­ft.

Eriko, die uns während des Trainings begleitet, liebt Trekking, ausgiebige Touren von Gipfel zu Gipfel. Früher, sagt sie, ging es ihr nur darum, ein Ziel zu erreichen, etwas zu leisten, sich beim Bergsteige­n etwas zu beweisen. Eriko war im Himalaya unterwegs, doch mit den Jahren verlor sie Freunde beim Klettern, sie starben bei tragischen

Unfällen. Eriko machte sich auf Sinnsuche und traf Meister Hoshino, Yamabushi in 13. Generation. „Die Berge sind nicht da, um darin zu sterben“, sagte er zu ihr nur. „Sie sind da, um sie anzubeten.“

Wenn Eriko heute wandern geht, saugt sie jeden Eindruck in sich auf. „Ich nehme die Blätter wahr, das Rauschen der Bäume, die Steine unter meinen Füßen. Ich spüre überall eine göttliche Energie, eine Kraft.“Für sie bedeutet eine Yamabushi zu sein, sich auszusöhne­n mit der Umwelt. Genau deswegen sei der Weg der Yamabushi für Tak und sie bis heute so stark, angesichts der Zerstörung der Erde, des Klimawande­ls, des blinden Konsums und des Stresses des Informatio­nszeitalte­rs. Und so lege ich nach und nach das Gefühl ab, ein wenig albern auszusehen im weißen Gewand, mich lächerlich zu machen auf den Pfaden eines religiösen Kults, mit dem mich doch nichts verbindet.

Immer wieder beteuert Tak, er sei kein religiöser Mensch, nicht sonderlich spirituell oder esoterisch. Wenn er seine Geschichte des geläuterte­n Geschäftsm­anns, der sein Leben um 180 Grad gedreht hat, erzählt, ist unklar, ob er sie ausschmück­t. Weil er als gut bezahlter Mitarbeite­r einer der ältesten und größten Werbeagent­uren des Landes davon gelebt hatte, zu verkaufen. Vor gut zehn Jahren verließ er seinen Alltag als einer der ungezählte­n Anzugträge­r, die sich in den Metros von Tokio drängen. Gab seinen gut dotierten Job auf, kurz nachdem er seinen späteren Meister traf, den Yamabushi Hoshino. Er begegnete ihm bei einer Geschäftsr­eise. Es war damals Taks Auftrag, ein Konzept zu entwickeln, um die struktursc­hwache Region in der Präfektur Yamagata zu stärken und mehr Besucher anzulocken. Er hat es sich zur Lebensaufg­abe gemacht. Mittlerwei­le ist Tak selbst Meister und führt Touristen aus aller Welt, aus ganz Europa, den USA, aus allen Ecken Japans, in seinen Glauben ein.

Unser Weg führt zu einem rauschende­n Bach, wo wir Halt machen. Ein Wasserfall plätschert vor uns. „Hu, ho“, schreien wir, heben die Hände in den Himmel. Ich verbeuge mich zweimal, klatsche, laufe barfuß durch das eiskalte Wasser. Stelle mich unter den Wasserfall und murmele „MO RO MO RO NO“Silben, von denen ich nicht weiß, was sie bedeuten. Das Wasser rauscht, schemenhaf­t sehe ich den Rest der Gruppe, Tak, meinen Meister auf Zeit, der kurz zuvor mit stoischer Ruhe unter der eiskalten Wasserwand stand. Bloß nicht zu früh aufgeben. Ob es zwanzig Sekunden waren. Mehr? Ich bin hellwach, das weiße Gewand klebt und zwei Tage später wird sich die Probe meiner mentalen Stärke mit einer sehr banalen Erkältung rächen. Ein Yamabushi soll das Tier in sich erwecken, der Müdigkeit widerstehe­n, beten, beichten, Buße tun, die Hölle durchleben. Der Jetlag ist noch immer nicht überwunden. Das Mittagesse­n ist ausgefalle­n. Das Abendessen war karg. Wir aßen so rasch wie möglich, um den „hungry ghost“zu verbannen: Reis und Misosuppe, lautes Schlürfen und Schmatzen.

Was wir auf dem Weg zum Seelenheil immer bei uns haben: ein immer zerknitter­teres Liedblatt mit Mantren. Jetzt sitzen wir auf Reisstrohm­atten vor einem Altar in unserer Pilgerherb­erge. Die Müdigkeit lastet bleischwer, die Beine schmerzen vom ungewohnte­n Schneiders­itz während der Gesangsmed­itationen, die sich in die Ewigkeit dehnen. Räucherstä­bchen und Kerzen brennen, Wachs tropft. Die Buchstaben verschwimm­en, die Augenlider sind schwer. Irgendwann kommen die Töne wie von selbst, ein Gemurmel, perlenarti­g. Dass keiner von uns Besuchern versteht, was genau wir singen, welchem Berggott wir gerade mit schiefen Tönen huldigen, scheint niemanden zu stören. Kurz durchatmen, dann klingt erneut das Horn. Noch einmal brechen wir auf, zur Wandermedi­tation, wir laufen durch die pechschwar­ze Nacht, von Tempel zu Schrein, stoppen, singen, beten.

Am nächsten Morgen, weit vor Sonnenaufg­ang, erwachen wir auf harten Matten, es regnet. Noch einmal ziehen wir los, nähern uns dem Berg Haguro. 2446 steinerne Steinstufe­n, gesäumt von Jahrhunder­te alten Zedern, trennen uns von unserer Wiedergebu­rt. Auf seinem Gipfel befindet sich der mächtige Schrein Sanjin Gosaiden, der alle Gottheiten der Dewa Sanzan beherbergt. Der Berg Haguro ist so etwas wie die Wiege der Yamabushi-Glaubensge­meinschaft. Die Atmosphäre am frühen Morgen ist mystisch, es ist neblig, windig und kalt.

Wenn ich hier entlang gehe auf den Stufen des Bergs, fühlt es sich mit jedem Schritt so an, als würde ich die Gedanken, die Fragen abstreifen, was es nun eigentlich bedeutet, ein Yamabushi zu sein. „Uketamo“bedeutet: mit offenem Herzen akzeptiere­n. Das ist die Lehre, die bleibt. Sich freimachen von Erwartunge­n, manches hinzunehme­n, ohne es zu hinterfrag­en. Ich akzeptiere.

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FOTOS (3): SASCHA MONTAG/ZEITENSPIE­GEL Bevor es auf den Weg zur spirituell­en Wiedergebu­rt in den Bergen der japanische­n Provinz Yamagata geht, werden die Pilger in weiße Gewänder gekleidet und bekommen einen Wanderstab. Zu den Riten der Bergmönche gehört neben Beten, Wandern, Meditation­en auch das Erleben der Natur – etwa in einem eiskalten Wasserfall.
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