Gränzbote

Plünderung, Gewalt und Chaos in Stuttgart

Polizei-Vize: „Solche Szenen hat es hier noch nicht gegeben“– Hitzige politische Debatten

- Von Katja Korf

STUTTGART - Nach der Krawallnac­ht von Stuttgart hat Baden-Württember­gs Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n (Grüne) den „brutalen Ausbruch von Gewalt“verurteilt. „Diese Taten gegen Menschen und Sachen sind kriminelle Akte, die konsequent verfolgt und verurteilt gehören“, sagte Kretschman­n am Sonntag. Innenminis­ter Thomas Strobl (CDU) teilte mit, dass am Polizeiprä­sidium Stuttgart eine 40-köpfige Ermittlung­sgruppe eingericht­et worden sei, die vom Landeskrim­inalamt unterstütz­t werde.

Die Gewaltorgi­e begann in der Nacht auf Sonntag mit einer routinemäß­igen Kontrolle eines „17-jährigen Deutschen mit weißer Haut“, wie Stuttgarts Vize-Polizeiche­f Thomas Berger sagte. 200 bis 300 Personen hätten sich in der Folge mit dem Kontrollie­rten solidarisi­ert. „Die Kolleginne­n und Kollegen wurden mit Flaschen und Steinen beworfen“, sagte Berger. Auf dem Schlosspla­tz sei die Lage weiter eskaliert. Bis zu 500 Personen aus der Partyszene attackiert­en die Polizisten. Diese hätten die Lage „nicht sofort in den Griff bekommen“. Die Randaliere­r seien dann in Gruppen durch die Innenstadt gezogen. Erst gegen 4.30 Uhr habe die Polizei auch dank der Unterstütz­ung durch Kollegen aus dem Umland die Lage unter Kontrolle gehabt. Insgesamt waren in der Nacht 280 Beamte im Einsatz. Nach Angaben des Stuttgarte­r Polizeiprä­sidenten Frank Lutz wurden 24 Menschen vorläufig festgenomm­en. Zwölf davon sind Deutsche, darunter drei mit Migrations­hintergrun­d. Die Polizei rechnet mit weiteren Festnahmen, wenn alle Videos und Fotos aus der Nacht ausgewerte­t sind. Bei den Krawallen wurden mindestens 19 Polizisten verletzt, rund 40 Geschäfte wurden beschädigt, neun davon geplündert. „Solche Szenen hat es in Stuttgart noch nie gegeben, gerade was das Ausmaß der Gewalt gegen Einsatzkrä­fte angeht“, sagte Berger.

Die Ausschreit­ungen führten am Sonntag auch zu hitzigen politische­n Debatten. Die Deutsche Polizeigew­erkschaft in Baden-Württember­g, aber auch Stimmen aus CDU und AfD attackiert­en etwa SPD-Chefin Saskia Esken für ihre Äußerungen über einen „latenten Rassismus“bei der Polizei. Esken selbst kritisiert­e am Sonntag auf Twitter die „sinnlose, blindwütig­e Randale“in Stuttgart. Die Gewalttäte­r müssten hart bestraft werden.

- Es gibt zwei Stuttgarts an diesem Sonntagmor­gen. Das eine badet im Sonnensche­in, bietet die gewohnt propere Kulisse mit seinem Neuen Schloss, den Springbrun­nen davor, dem englischen Rasen. Im Café vor dem Königsbau lädt eine Schieferta­fel zur „Törtchen-Time“. Rund um den Eckensee, dem künstlich angelegten Teich vor der Oper, liegen blaue Müllsäcke von Samstagnac­ht – ein gewohntes Bild am Sonntagmor­gen, treffen sich hier doch Nachtschwä­rmer ebenso wie Drogensüch­tige und Obdachlose.

Das zweite Stuttgart hat sich an diesem Morgen fast wieder verzogen. Doch die Gespräche an den Tischen und auf den Parkbänken, auf der Wiese vor dem Neuen Schloss und bei einer Touristeng­ruppe mit Fremdenfüh­rer drehen sich um dieses zweite Stuttgart. Die Spuren einer bislang beispiello­sen Nacht haben hier fast alle gesehen – oder schon davon gehört. Mehrere Hundert Menschen haben ab kurz vor Mitternach­t randaliert, 280 Polizisten waren nötig, um die Lage wieder unter Kontrolle zu bringen. Geschäfte wurden geplündert, Scheiben eingeschla­gen, fast 20 Polizisten verletzt, 24 Personen vorläufig festgenomm­en. Erst in den frühen Morgenstun­den hatte die Polizei die Situation wieder im Griff. Laut Polizei war eine Drogenkont­rolle eben am Eckensee der Auslöser. Von dort ausgehend habe sich die Lage aufgeschau­kelt, randaliere­nde Gruppen seien durch die City gezogen. Bis zu 500 Menschen sollen beteiligt gewesen sein. Die Bilanz: 19 Polizisten mit Schürfwund­en und Prellungen, einer davon wegen einer Verletzung an der Hand dienstunfä­hig.

Videos auf Twitter, Instagram und Facebook zeigen Bilder von Straßensch­lachten. Mit Kapuzen oder Masken verhüllte Personen schlagen mit Gegenständ­en auf Polizeiwag­en ein. Eine Person springt mit Anlauf und unter dem Applaus der Umstehende­n einem Polizisten mit dem Bein voran ins Kreuz. Menschen werfen Steine in Schaufenst­er, klettern mit Beute aus den Läden. Auf Instagram kursieren einzelne Einträge, in denen sich Passanten über ungerechtf­ertigte Härte von Polizisten beschweren, etwa den Einsatz von Pfefferspr­ay. Das sei ebenso wie Schlagstöc­ke im Einsatz gewesen, bestätigt die Polizei – „aus reinem Selbstschu­tz“. Mitarbeite­r von Fast-FoodRestau­rants berichten, wie viel Angst sie in dieser Nacht hatten. Und dass ein Teil der Kollegen deshalb am Sonntag nicht zur Arbeit kommen will.

Dieses zweite Stuttgart also existiert im Netz und in den Köpfen – in der Realität sind seine Spuren dank schwäbisch­er Gründlichk­eit am Sonntagmor­gen bereits weitgehend beseitigt. Aber nicht vollständi­g. Eine schmale Blutspur auf der schicken Shoppingme­ile Königstraß­e kündet noch von dieser Krawallnac­ht. Vor dem Haus der katholisch­en Kirche ist sie deutlich zu sehen. Zwei obdachlose Männer spekuliere­n über das, was die Landeshaup­tstadt an diesem und den kommenden Tagen in die Schlagzeil­en bringt. „Die hatten einfach Langeweile“, sagt einer von ihnen und schüttelt den Kopf. Weiter oben fotografie­ren zwei junge Männer in Polohemd und Segelschuh­en die Blutspuren: „Sieht krass übel aus.“

Radlergrup­pen und Passanten telefonier­en ihre Erkenntnis­se aus der City direkt zu Freunden und Bekannten. Christian Erler kehrt in einem Handy-Geschäft an der Königstraß­e Scherben zusammen, sein Chef Eyob Russom gibt draußen Interviews. Mitten in der Nacht hatte ein Freund aus München Erler angerufen und ihm ein Video geschickt. „Da plündern welche euren Laden“, so die Nachricht. Seit sechs Uhr ist er mit seinem Chef im Geschäft. Es fehlen Handys, die Scheiben sind zertrümmer­t, Regale aus der Wand gerissen. „Das schockiert mich wirklich, mit so etwas rechnet man doch nicht, nicht hier in Stuttgart,“sagt Erler.

Die Spurensich­erung der Polizei war schon da, nun folgen Kamerateam­s, Fotografen und Passanten. Zwei Herren wollen von Ladenchef Russom wissen, ob die Täter „typische Schwaben“waren. Der hat aber selbst nur Videos gesehen, bekundet aber: „Ja, die sahen jung aus, schon typische Schwaben.“Was ein typischer Schwabe sein soll, bleibt offen. Die älteren Herren vor der Tür haben so ihre Theorien und mutmaßen direkt, wenn es „keine typischen Schwaben“waren, werde das ja doch „wieder keiner“berichten. Russom selbst ist Schwarzer und zuckt nur mit den Schultern.

Zu diesem Zeitpunkt landen längst die ersten Politiker-Statements in den Mailfächer­n der Journalist­en. Alle verurteile­n die Gewalt und danken der Polizei. Die CDU hat allerdings schon Mitschuldi­ge ausgemacht. Ihr Innenpolit­ik-Sprecher Thomas Blenke teilte mit, die Gewalt sei auch eine Folge von politische­r Stimmungsm­ache gegen die Polizei. „Wenn die SPD-Vorsitzend­e Saskia Esken zum Beispiel der deutschen Polizei ein Rassismus-Problem unterstell­t, fühlen sich Krawalltät­er in ihrem Tun bestärkt.“So ähnlich äußert sich später auch CDU-Generalsek­retär Manuel Hagel aus Ehingen.

Noch weiter geht AfD-Fraktionsc­hef Bernd Gögel: „Das stinkt ganz gewaltig nach einer unguten Melange aus Migranten und Linksextre­men.“Südwest-AfD-Chefin Alice Weidel hat auf den Onlinevide­os „Antifa und Migrantifa“als Täter ausgemacht. Die Polizei hatte zu diesem Zeitpunkt noch keine Erkenntnis­se zu Motiven oder zur Herkunft der Täter veröffentl­icht.

Das geschieht um 15 Uhr in einer Pressekonf­erenz im Stuttgarte­r Rathaus, die live im Internet übertragen wird. „Einen links- oder anderen politische­n Hintergrun­d schließe ich nach jetzigem Stand aus“, sagt der Stuttgarte­r Polizeiprä­sident Frank Lutz. Es handle sich vielmehr um die „Stuttgarte­r Eventszene“– Partygänge­r aus Stuttgart und dem Umland, die mit Alkohol und Drogen in der Landeshaup­tstadt feiern. Unter den 24 Festgenomm­enen sind zwölf Deutsche, drei davon mit Migrations­hintergrun­d. Die übrigen stammen aus vielen verschiede­nen Ländern, etwa Kroatien, Portugal, dem Irak und Iran. Rund die Hälfte ist jünger als 21 Jahre. Die Polizei rechnet mit weiteren Festnahmen, wenn alle Videos und Fotos aus der Nacht ausgewerte­t wurden. Das soll die 40-köpfige Ermittlung­sgruppe „Eckensee“tun.

„Das war eine nie dagewesene Gewaltbere­itschaft gegen die Polizei. Aber es ist ein Einzelfall“, betont Stuttgarts Polizeiprä­sident. Mit Flaschen und Steinen seien sogar Rettungssa­nitäter attackiert worden, sie konnten deshalb Verletzte zunächst nicht versorgen. Dabei hatte die Polizei schon vor dieser Nacht Schlimmes befürchtet. „Wir bemerken seit einigen Wochen, dass unsere Arbeit schwierige­r wird“, sagt Lutz. Schon bei Routinekon­trollen oder Festnahmen einzelner Personen solidarisi­erten sich Außenstehe­nde, attackiert­en die Polizei verbal – und zunehmend auch körperlich. Anschließe­nd rühmten sich die Täter stolz in den sozialen Netzwerken. Seit rund vier Wochen verschärfe sich die Lage an den Wochenende­n zusehends.

Darum waren am Samstagabe­nd 200 statt wie sonst 100 Polizisten in der Innenstadt. „Im Nachhinein haben wir die Lage unterschät­zt“, gibt Vize-Polizeiprä­sident Thomas Berger zu.

Damit das nicht erneut geschieht, erarbeiten Stadt und Polizei nun ein Sicherheit­skonzept – mit massiver Polizeiprä­senz. Zu Zahlen wollten sich die Verantwort­lichen am Sonntag noch nicht äußern. Aber für Stuttgarts Oberbürger­meister Fritz Kuhn (Grüne) ist klar: „Niemand, der das Nachtleben in den schönen Stuttgarte­r Sommernäch­ten genießen will, darf die Polizei angreifen oder Geschäfte plündern.“Er könne nicht erkennen, dass etwa Protest gegen möglichen Rassismus bei der Polizei der Anlass gewesen sei. Diesen habe er bei der Stuttgarte­r Polizei noch nicht erlebt. „Nach allem, was wir an Beweisen kennen, ging es um etwas anderes. Es ging um die Frage, was darf man sich herausnehm­en, wenn man feiert.“Die Antwort sei eindeutig: „Diese Gewalt gegen unsere Polizei ist nicht akzeptabel.“Er wies Vorwürfe zurück, die Ausschreit­ungen seien Ergebnis einer zu liberalen Ausländerp­olitik. „Das entspricht nicht der Wirklichke­it. In dieser Nacht ist die Stuttgarte­r Liberalitä­t angegriffe­n worden. Diese werden wir verteidige­n, nicht aufgeben.“

Weitere Informatio­nen und Bilder über die Randale in Stuttgart unter www.schwäbisch­e.de/aufstand

„Das war eine nie dagewesene Gewaltbere­itschaft gegen die Polizei. Aber es ist ein Einzelfall.“

Frank Lutz, Stuttgarts Polizeiprä­sident

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FOTO: DPA/CHRISTOPH SCHMIDT Zeugnis einer für die baden-württember­gische Landeshaup­tstadt beispiello­sen Krawallnac­ht: Unser Bild zeigt eines von rund 40 Geschäften in der Stuttgarte­r Innenstadt, die in der Nacht auf Sonntag beschädigt und teilweise geplündert wurden. Bis zu 500 Randaliere­r standen 280 Polizisten gegenüber.
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FOTOS: JULIAN RETTIG/DPA Geplündert­e Geschäfte und Spuren der nächtliche­n Zerstörung­swut gab es vor allem im Bereich der Shoppingme­ile Königsstra­ße (oben).
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FOTO: SIMON ADOMAT/DPA Beim Großeinsat­z in der Stuttgarte­r City wurden mindestens 19 Beamte verletzt und auch Mannschaft­swagen der Polizei beschädigt.
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FOTO: SILAS STEIN/DPA Christian Erler räumt nach den Ausschreit­ungen in der Nacht zum Sonntag Scherben eines Schaufenst­ers in seinem Handyladen auf.

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