Bangen um verbliebenen Atom-Abrüstungsvertrag
USA und Russland verhandeln über Begrenzung von Interkontinentalraketen – ohne Beteiligung Chinas
BERLIN - Ein heller Blitz zuckt, und eine pilzförmige Explosionswolke reckt sich gen Himmel. Hitze von mehreren Tausend Grad verdampft binnen Sekunden alles Leben im Umkreis von mehreren Kilometern, Hunderttausende Menschen in Dutzenden Kilometern Entfernung werden für den Rest ihres Lebens gezeichnet. Viele sterben an Strahlenschäden und Krebs.
Das Szenario der beiden amerikanischen Atombombenabwürfe auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki ist auch nach 75 Jahren immer noch im Gedächtnis der Menschheit verankert. Diese Bilder trugen dazu bei, dass über die Jahrzehnte des Kalten Krieges hinweg ein Gleichgewicht des Schreckens zwischen den USA und Russland herrschte, besiegelt durch zahlreiche Verträge der Rüstungskontrolle. Von denen ist inzwischen kaum noch etwas übrig. Nun aber verhandeln beide Länder wieder über die Begrenzung von Atomwaffen. Am Montag treffen sich ihre Vertreter in Wien.
Das ist deshalb so erstaunlich, weil seit fast zwei Jahrzehnten die Richtung der Rüstungskontrolle eine andere war. Bereits im Jahr 2002 kündigt der damlige US-Präsident George W. Bush den ABM-Vertrag, der 30 Jahre lang beiden Staaten den Aufbau einer landesweiten Raketenabwehr verboten hatte. Er war zur Abschreckung geschlossen worden: Wer sein Land nicht verteidigen kann, wird keinen atomaren Erstschlag und die Reaktion darauf riskieren, lautete das Kalkül. Diese Logik geriet mit einer sich verändernden Weltlage unter Druck. Es gebe „wachsende Raketengefahren“begründete Bush seinen Schritt.
Nach der Kündigung des INF-Vertrages über landgestützte atomare Mittelstreckenwaffen durch die USA und Russland im vergangenen Jahr und der angekündigten Abkehr Washingtons vom Inspektionsvertrag „Open Skies“, der gegenseitige Überwachungsflüge vorsah, ist bald nur noch ein einziges bilaterales Nuklear-Abkommen übrig: „New Start“. Es läuft Anfang Februar kommenden Jahres aus, wenn es nicht zuvor um maximal fünf Jahre verlängert wird.
Dass sich beide Seiten tatsächlich wieder an einen Tisch setzen, hat einen gewichtigen Grund. Denn während weder die USA noch Russland mit Mittelstreckenwaffen, wie sie der INF-Vertrag begrenzte, strategisch wichtige Ziele im jeweils anderen Land erreichen können, fliegen sogenannte ballistische Atomraketen, die unter die „New Start“-Begrenzung fallen bis zu 15 000 Kilometer weit. Und sie sind nach wie vor auf den jeweils anderen gerichtet.
Erst im Mai hatte Russlands Präsident Wladimir Putin den Sicherheitsrat seines Landes zusammengetrommelt und beklagt, dass es keine ernsthaften Verhandlungen mit den USA über „New Start“gebe. Das sei ein Thema von höchster Wichtigkeit, sagte Putin, „nicht nur für uns, sondern für die ganze Welt“.
Die Verhandlungen sind allerdings kein Selbstläufer. Das hat vor allem damit zu tun, dass den USA eine Atommacht am Tisch fehlt, die in Zukunft eine größere Rolle in der Welt spielen wird: China. „Wir reden mit Russland, hoffentlich auch mit China, über die Kapazitäten von Nuklearraketen und hoffentlich die Beschränkung von nuklearen Fähigkeiten durch alle drei Länder“, sagte die US-Botschafterin bei der Nato, Kay Bailey Hutchison, kürzlich noch zuversichtlich. Doch in Peking denkt man gar nicht daran, über eine Begrenzung des mageren chinesischen Atomarsenals verhandeln zu wollen. Das Land verfügt dem Friedensforschungsinstitut Sipri zufolge über 320 Atomsprengköpfe, die USA über 5800 und Russland über 6375.
„China war noch nie ein Partner in irgendeinem Abrüstungsvertrag“, erklärt Dean Cheng, China-Forscher bei der amerikanischen Stiftung Heritage Foundation die Position Pekings. „Das chinesische Militär hat kein Interesse an einem Start-3-Vertrag oder einem INF-Vertrag.“China fühle sich zum Beispiel in Handelsfragen als Großmacht, aber nicht im militärischen Bereich, betont Cheng – gerade wenn es den Vergleich mit den enormen nuklearen Arsenalen Washingtons und Moskaus ziehe. „China will sich nicht beschränken lassen.“
Ob die Gespräche über den letzten Vertrag scheitern, wird insbesondere davon abhängen, ob die USA trotz der Absage Chinas gesprächsbereit bleiben. In anderen Fällen war die Trump-Regierung nicht besonders geduldig. Aus dem Atomabkommen mit Iran haben sich die USA 2018 zurückgezogen. Insofern befürchten Beobachter, dass das Wiener Treffen der Auftakt zu einer Alibi-Veranstaltung werden könnte.
Dabei erhält Rüstungskontrolle, auch über den nuklearen Bereich hinaus, international immer mehr Beachtung. Erst im vergangenen Jahr veranstaltete das Auswärtige Amt in Berlin eine Konferenz, die sich mit dem Kriegsmaterial der Zukunft befasste: mit autonomen Killerwaffen und Hyperschallraketen etwa. „Wir müssen Rüstungskontrolle neu denken“, forderte Außenminister Heiko Maas (SPD) damals. Das Thema müsse zurück auf die internationale Agenda.