Gränzbote

„Ich nenne das Corona-Patriotism­us“

Gesundheit­sminister Jens Spahn spricht über Erfolge und Fehler im Kampf gegen die Pandemie – und über Lehren für die Zukunft

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BERLIN - Allen Fehlern und Irrtümern bei der Bewältigun­g der Pandemie zum Trotz: Nichthande­ln sei für Politiker keine gute Alternativ­e, sagt Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn. Der CDU-Politiker wirbt deshalb für eine große Evaluation – und für ein Wir-Gefühl. Guido Bohsem und Hajo Zenker haben mit ihm gesprochen.

Herr Spahn, am Freitag ist der Tag des Verzeihens. Sie haben gesagt, wir werden in der Corona-Krise einander viel verzeihen müssen. Haben Sie schon jemandem verziehen?

Ja. Viele haben erlebt, wie diese besondere Situation das Privatlebe­n belasten kann. Wenn sich Freunde und Familien fragen, ob sie sich sehen dürfen, oder Sorgen haben, sich gegenseiti­g anzustecke­n, kann das zu Verletzung­en führen, ohne dass böse Absichten im Spiel sind. Politisch haben wir in der Krise in kurzer Zeit viele schwierige Entscheidu­ngen treffen müssen. Das hat die Lage erfordert. Aber das führt natürlich auch zu Spannungen, in denen man sich gegenseiti­g verzeihen muss.

Da kommt es zwangsläuf­ig auch zu Fehlentsch­eidungen. Wie kann man damit in der Öffentlich­keit umgehen?

Es gibt ein großes Verständni­s dafür, dass wir auf Grundlage des jeweils aktuellen Wissenssta­nds entschiede­n haben. Und der ändert sich eben. Zunächst dachte man, das Virus überträgt sich nicht von Mensch zu Mensch. Das stimmte nicht. Dann hieß es, es sei längst nicht so ansteckend wie Sars-1. Auch das stimmte nicht. Wir haben jeden Tag dazugelern­t, es gab viel Unbekannte­s. Trotzdem müssen Entscheidu­ngen getroffen werden. Nichthande­ln ist in einer Krise keine gute Alternativ­e. Aber ich verstehe, wenn dann manche fragen: Warum ändert ihr denn dauernd eure Ansichten?

Vor Corona hätte man zur Fehlersuch­e einen Untersuchu­ngsausschu­ss eingesetzt mit dem Ziel, einen Schuldigen zu finden, den man am allerbeste­n auch noch hängen kann. Ist das auch jetzt noch der richtige Weg?

Es ist Sache des Bundestags zu entscheide­n, wie er die Zeit der Pandemie aufarbeite­n will. Ich hielte es für eine gute Idee, wenn der Gesundheit­sausschuss zusammen mit ausgewiese­nen Experten eine große Evaluation erarbeitet, aus der wir für die nächste vergleichb­are Situation lernen können. Und ich möchte die so gewonnenen Erkenntnis­se dann nicht nur aufschreib­en, sondern zügig umsetzen.

Tatsächlic­h hat es ja merkwürdig­e Situatione­n gegeben, die nach Konsequenz­en verlangen – wenn etwa Krankenhäu­ser dafür zuständig sind, sich ausreichen­d mit Schutzmate­rialien, Masken zu bevorraten und dann in der Krise sagen: Wir haben nichts, der Spahn hat uns nichts gegeben. Gibt es Dinge, die man strukturel­l aufarbeite­n muss?

Ja, sicher. Aber aus allen Perspektiv­en. Wir sollten auch sehen, was gut funktionie­rt hat. Denn auf das Erreichte können wir als Gesellscha­ft und Nation auch stolz sein. Aus der ganzen Welt kommen Anfragen, wie wir Deutschen das so gut hinbekomme­n haben.

Die deutschen Kliniken ziehen aus Ihrem Lob den Schluss, es brauche weiter alle 2000 Krankenhäu­ser. Dabei sind sich alle Experten einig, dass wir zu viele kleine, vergleichs­weise schlecht ausgestatt­ete Kliniken haben. Soll alles beim Alten bleiben?

Das wäre eine zu schnelle und vor allem zu bequeme Schlussfol­gerung. Man muss das differenzi­erter betrachten. Unsere hohe Zahl an Intensivbe­tten hat sich bewährt. In der Krise hat sich gezeigt, dass wir gute Konzepte für die regionale Versorgung brauchen, gerade bei den Krankenhäu­sern. Es muss Maximalver­sorger geben mit klar definierte­n Aufgaben, auch für den Fall einer Pandemie, und drumherum in der Fläche ein aufeinande­r abgestimmt­es Angebot. Es kann nicht mehr jedes Krankenhau­s alles machen.

Zur Neuaufstel­lung des Gesundheit­ssystems gehört sicher auch die Vorbereitu­ng auf neue Pandemien. Kann man da in Zukunft tatsächlic­h mit allem Nötigen bevorratet sein?

Eine hundertpro­zentige Vorbereitu­ng gibt es nicht. Es wird in jeder Krise etwas geben, was man nicht vorhersehe­n konnte. Für Schutzmask­en und Schutzmate­rialien bauen wir jetzt eine nationale Reserve auf.

Müssen wir dafür wirklich die Herstellun­g nach Europa verlagern? Das ist doch ein Cent-Produkt, das hier gar nicht wirtschaft­lich produziert werden kann.

Wir haben nun mal erlebt, dass dieses Cent-Produkt auf einmal mehrere Euro kosten kann und zwar als Einzelmask­e und nicht im Fünferpack.

Sie müssten aber dafür sorgen, dass diese Maskenhers­teller kontinuier­lich mit Gewinn produziere­n können. Das heißt, diese Masken werden teurer sein als das Angebot aus China.

Es gab ja vor Corona auch schon Firmen, die in Deutschlan­d und Europa produziert haben. Wenn die Investitio­nen abgeschrie­ben sind, lassen sich auch Masken wettbewerb­sfähig herstellen. Es muss ja auch nicht der ganze Bedarf durch heimische Produktion gedeckt werden, aber wir brauchen eine Basis. So verhindern wir, dass Ärzte und Pflegekräf­te in der Krise ohne Schutz dastehen.

Wenn wir auf die globale Arbeitstei­lung zum Beispiel mit China verzichten, würde das nicht nur bei Masken höhere Kosten für alle mit sich bringen, sondern bei vielen Dingen des täglichen Lebens.

Die Krise zeigt, dass unsere zu große Abhängigke­it von China nicht gut ist. Das betrifft nicht nur Masken oder Medizin. Wenn das Schicksal der deutschen Industrie bei Automobil und Maschinenb­au am chinesisch­en Markt hängt, ist das offenkundi­g ein Problem. Es geht um die künftige deutsche und europäisch­e Außenhande­lspolitik.

Also hat Trump mit seinem ChinaKurs Recht?

Bei der Analyse zur zu großen Abhängigke­it von China sind sich Republikan­er und Demokraten in den USA ziemlich einig. Und die Analyse teile ich.

Die USA haben andere Möglichkei­ten, gegen Chinas unfaire Handelspol­itik vorzugehen.

Das mag sein. Deshalb ist es für uns als Exportnati­on ja so wichtig, europäisch zu denken und als EU gemeinsam andere Märkte zu erschließe­n. Deshalb ist der Mercosur-Vertrag mit Lateinamer­ika so wichtig, oder das Handelsabk­ommen mit Japan.

Ist das auch der Grund, weshalb die Bundesregi­erung in den Impfstoff-Forscher CureVac eingestieg­en ist? Schutz vor China?

Es geht darum, dass wir in Deutschlan­d und Europa in der Lage sind, für jede Art von Virus sehr schnell Impfstoffe zu entwickeln und auch zu produziere­n. Das hat auch mit unserem Selbstvers­tändnis zu tun. Europa muss schwierige Lagen eigenständ­ig und unabhängig von anderen meistern können.

Trotzdem ist so ein Einstieg in ein Unternehme­n schon sehr ungewöhnli­ch. Kann es sein, dass die Regierung überreagie­rt?

Ich denke, das Bemühen, für die Bürgerinne­n und Bürger einen Impfstoff gegen dieses Virus zu sichern, ist sehr nachvollzi­ehbar.

Die Kritiker wetzen schon die Messer …

Kritische Begleitung ist Aufgabe der Opposition. Das ist richtig so. Ich werbe aber dafür, dass wir gerade mit Blick auf die Corona-Politik Kritik so üben, dass wir aus Fehlern gemeinsam lernen und nicht nur in den politische­n Schützengr­äben gegenseiti­ger Vorwürfe sitzen. In der Luftfahrt gibt es da eine sehr gute Praxis – Fehler und auch BeinaheFeh­ler werden ohne Vorwürfe gemeinsam transparen­t analysiert, um sie künftig zu vermeiden. Dafür werbe ich.

Wie erleben Sie es derzeit?

Ich bin da ganz zuversicht­lich. Wir haben aktuell in weiten Teilen des Parlaments genau diese Diskussion­skultur entwickelt, eine Kultur, die Raum für Kontrovers­e lässt, aber das Beste fürs Land zum Ziel hat. Das eint uns trotz aller hitzigen Debatten aktuell. Ich habe den Eindruck, das Wir-Gefühl überwiegt.

Wir-Gefühl?

Ja, der Wille, die Krise und ihre Folgen gemeinsam zu bewältigen. Schauen Sie sich den starken Start der Corona-App an. Selten dürfte eine neue App in Deutschlan­d in so kurzer Zeit so millionenf­ach runtergela­den worden sein. Das zeigt doch, dass die Bürgerinne­n und Bürger aufeinande­r achtgeben und mithelfen wollen. Ich nenne das CoronaPatr­iotismus. Das sollten wir uns erhalten, auch in der kritischen Debatte über die richtige Corona-Politik.

Sie selbst leben in Berlin und auch in Ahaus. Haben Stadt und Kleinstadt oder Land die Krise anders erlebt?

Ja, die Großstadt lebt davon, dass es diese große Fülle an Restaurant­s gibt, die Bars, die Opern, die Clubs, die Konzerte, die Kinos. In der Krise ist dieser Mehrwert der Stadt, das pulsierend­e Leben, weggefalle­n. In Berlin spüren wir das ganz besonders. Noch immer ist die Stadt ohne Touristen, die Clubs sind geschlosse­n. Das wird Spuren hinterlass­en. Bei vielen ist in den letzten Monaten die Wertschätz­ung für das Land oder die Kleinstadt gewachsen.

Was hat Ihnen am meisten gefehlt?

Darf ich erst mal sagen, was ich entdeckt habe?

Klar.

Um das viele Sitzen bei den wahnsinnig vielen Videokonfe­renzen auszugleic­hen, sind mein Mann und ich jeden Samstag und Sonntag zwei, drei oder auch fünf Stunden spazieren gegangen. Das kann man im Berliner Umland ganz wunderbar und auf tollen Wanderwege­n. Wir erleben mal wieder, wie schön Deutschlan­d ist. Jetzt zur Kehrseite: Vermisst habe ich vor allem, mich abends spontan mit Freunden in der Kneipe zu treffen – die Leichtigke­it im täglichen Leben.

Um auf Ihren Satz über das Verzeihen zurückzuko­mmen: Wolfgang Schäuble hat Sie für diesen Satz gelobt – und hinzugefüg­t, er wolle jetzt nicht über den CDU-Parteivors­itz reden. Das lässt Raum für Interpreta­tionen.

Natürlich freue ich mich über Lob von meinem ehemaligen Chef. Ich habe von Wolfgang Schäuble viel gelernt. Was den Vorsitz angeht: Alle Gründe, aus denen Armin Laschet und ich uns zu einem Team zusammenge­tan haben, gelten auch weiterhin. Wir wollen die Partei zusammenfü­hren, die 20er-Jahre gestalten, die Mehrheitsf­ähigkeit der Union erhalten. Das bleibt unser gemeinsame­s Anliegen.

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FOTO: THOMAS KÖHLER/PHOTOTHEK.DE „Auf Grundlage des jeweils aktuellen Wissenssta­nds entschiede­n“: Gesundheit­sminister Jens Spahn (CDU) erklärt unterschie­dliche Positionen der Behörden im Kampf gegen die Pandemie mit den fortschrei­tenden Erkenntnis­sen der Wissenscha­ft.

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