Späte Würdigung
Berliner Autorin Helga Schubert gewinnt mit 80 den Bachmannpreis
KLAGENFURT (dpa) - Als älteste je eingeladene Teilnehmerin hat die 80 Jahre alte deutsche Schriftstellerin Helga Schubert den renommierten Bachmannpreis gewonnen. Quirlig und gerührt zeigte sie sich am Sonntag in einer ersten Reaktion. „Ich bin unglaublich glücklich“, sagte die gebürtige Berlinerin, die von zu Hause aus in Neu Meteln in Mecklenburg-Vorpommern live ins österreichische Fernsehen zugeschaltet war. Der Preis ist mit 25 000 Euro dotiert und gilt als eine der wichtigsten Auszeichnungen für deutschsprachige Literatur. Er wird seit 1977 verliehen und erinnert an die in Klagenfurt geborene Lyrikerin Ingeborg Bachmann (1926-1973).
Schubert setzte sich gegen 13 andere Kandidatinnen und Kandidaten durch. In der entscheidenden Abstimmung gewann sie in einer Stichwahl gegen die etwa 50 Jahre jüngere Lisa Krusche aus Braunschweig.
Die Texte hätten unterschiedlicher kaum sein können: Während Schubert sich mit der zwiespältigen Beziehung einer Tochter zu ihrer vom Krieg verhärteten Mutter auseinandersetzt, geht Krusche in die Bildwelt von Computerspielen, mit einer Protagonistin, die sich zwischen Avataren und Bots bewegt. Krusche gewann dafür den mit 12 500 Euro dotierten Deutschlandfunk-Preis.
Für die Diplompsychologin Schubert, die seit den 1970er-Jahren Erzählungen, Kinderbücher, Hörspiele, Theateradaptationen, Kolumnen, und Märchen veröffentlicht hat, war es eine späte Genugtuung. Sie war 1980 schon einmal eingeladen, am Wettlesen um den Bachmannpreis teilzunehmen. Damals bekam sie aus der DDR aber keine Ausreisegenehmigung. Der Triumph kam nun 40 Jahre später.
Diesmal empfand Schubert die Tatsache, dass sie wegen der CoronaKrise nicht reisen konnte, aber als Segen. Der Wettbewerb fand virtuell statt, die Autoren hatten ihre Lesungen aufgezeichnet und die Jury diskutierte live per Videoschaltung aus dem Homeoffice. Schubert sprach von einer „schutzengelmäßigen Schicksalswendung“. So habe sie zu Hause bleiben und ihren Mann pflegen können. „Ich war dankbar, dass ich auf diese Weise dabei sein konnte“, sagte sie.
Schubert erzählt in „Vom Aufstehen“von einer Frau, die morgens im Bett liegt und das Aufstehen hinauszögert. „Auf, auf, sprach der Fuchs zum Hasen, hörst du nicht die Hörner blasen? So weckte mich meine Mutter früher, als ich ein Schulkind war“, beginnt der Text. Die Frau verwebt im Bett liegend Erinnerungen an ihre verstorbene, vom Krieg geprägte harte Mutter und die innige Beziehung zu ihrem nebenan liegenden kranken Mann. Die Frau heißt Helga. Schubert selbst wurde 1940 geboren, ihr Vater starb ein Jahr später als Soldat.
Der Text könnte in Bitterkeit enden, doch schreibe Schubert vom Versöhnen, vom Friedenmachen und von Geborgenheit, sagte Jurorin Insa Wilke in ihrer Laudatio. „Helga Schubert hat Lebensgeschichte in Literatur verwandelt“, sagte Wilke. „Helga Schubert zeigt, wie aus harten Brüchen der lebenslange Knacks einer Sehnsucht werden kann.“Schon nach der Lesung am Freitag zeigte sich die Jury berührt. „Die Dinge fügen sich in diesem Text auf eine wunderbare Weise“, sagte der Vorsitzende Hubert Winkels, er sei mit Raffinement gewebt.
Schubert war am Sonntag sichtlich bewegt. Sie hoffe, nicht in Tränen auszubrechen, meinte sie aufgekratzt, bevor sie ein Zitat von Ingeborg Bachmann vorlas. Dann verriet sie, dass ihr Text Bachmann gewidmet war. Sie sei stolz, dass die Jury das nicht bemerkt habe. Der Titel sei eigentlich „Das 80. Jahr“gewesen, angelehnt an Bachmanns Erzählungszyklus „Das dreißigste Jahr“. Sie habe sich aber „nicht so an die Jury ranschmeißen“wollen. Deshalb habe sie den letzten Satz aus Bachmanns Buch genommen („Steh auf, dir ist kein Knochen gebrochen“) und daraus den Titel „Vom Aufstehen“gemacht.