Spannende Geschichte einer Emanzipation
Biografie über Magarete Dessoff ist auch ein Lesestoff für den Dirigentinnennachwuchs
Eine gut zu lesende Biografie über eine frühe Chordirigentin, die Frankfurterin Margarete Dessoff, ist vor Kurzem im Wolke Verlag erschienen, der sich im Nebentitel „books on music“nennt. Nun sind musikwissenschaftliche Werke nicht gerade jedermanns Sache. Aber in diesem Fall liest sich der Lebensweg einer Musikerin der Jahrhundertwende, die in Frankfurt und in New York eine erstaunliche Karriere gemacht hat, auch als die Geschichte einer spannenden Emanzipation in einer patriarchalisch geprägten Musikwelt und in politisch brisanter Zeit.
Das ist zum einen das Verdienst von Sabine Fröhlich, freie Autorin für Presse, Hörfunk und Dokumentarfilm, die das komplexe Thema in kurze Kapitel leserfreundlich strukturiert hat. Außerdem bettet sie die Biografie eindrucksvoll in den historischen Kontext. Der ausführlich geschilderte familiäre Hintergrund von Margarete Dessoff trägt zum Verständnis der wilhelminischen städtischen Gesellschaft in Deutschland ebenso bei, wie er einen Einblick gibt in die Stellung der Frau um die Jahrhundertwende.
Dessoffs Eltern entstammten Künstlerfamilien und gehörten zur deutsch-jüdischen Gesellschaft in Frankfurt, das zwischen dem Kaiserreich und den 1920er-Jahren eine musikbegeisterte Stadt gewesen ist. Der Vater Felix Otto Dessoff wirkte dort, nach Jahren in Wien als Dirigent der Hofoper und der Philharmoniker, ab 1880 als 1. Kapellmeister des Stadttheaters. Zu den Freunden und Gästen der Eltern gehörten berühmte Komponisten und Musiker, allen voran Johannes Brahms, Clara Schumann, Anton Rubinstein, Franz Liszt, Hans von Bülow und Camille Saint-Saëns. Diese musische Atmosphäre und das Interesse an zeitgenössischen Komponisten prägte die als viertes von fünf Kindern und als einzige Tochter 1874 geborene Margarete Dessoff ihr Leben lang.
Große Vitalität, ein starkes Selbstbewusstsein und nimmermüde Begeisterung
für ihre Arbeit sowie die Förderung des Komponistennachwuchses waren Dessoff genauso eigen wie eine zähe Durchsetzungskraft. Diese brauchte sie als ledige berufstätige Frau und als Lehrerin am Konservatorium. Zwischen ihrem ersten Konzert mit dem von ihr gegründeten Frauenchor im Jahr 1903 und ihrer Emigration nach New York 1924 lagen nicht nur zahlreiche Konzerte und Uraufführungen, sondern auch die Gründung von zwei weiteren Chören. Mit der finanziellen Hilfe von Felix Warburg, Banker in New York, konnte Dessoff 1923, nach dem Erliegen des Kulturbetriebs aufgrund der Weltwirtschaftskrise, in Amerika Fuß fassen, wo sie 1925 den „Adesdi Chorus“gründete, der später zu den „Dessoff Choirs“erweitert wurde. Nach zehn erfolgreichen Jahren in New York entschied sie sich 1936 nach einem schweren Autounfall zur Heimkehr nach Europa, lebte kurz in Wien und Italien und zog 1938 in die Schweiz nach Locarno, wo sie vielen verfolgten Juden half.
Was die vielfältigen Verbindungen zu jungen Komponisten ihrer Zeit betrifft, ist die Zusammenarbeit und die Korrespondenz mit dem in Ravensburg geborenen Hugo Herrmann (1896-1967) interessant, von dem Dessoff einige Werke wie die „Chorvariationen über die Sonnengesänge des Franziskus von Assisi“mit ihrem Frauenchor einstudierte.
Viele Zitate aus der Korrespondenz der New Yorker Zeit von Margarete Dessoff werden in Englisch wiedergegeben, außerdem bilden 63 Seiten Anmerkungen und Glossar die akribische Recherche der Autorin ab, die zum Teil nur über wenig Quellenmaterial verfügte, zumal Margarete Dessoff in Bezug auf ihre eigene Person und Leistung zurückhaltend war. So spiegelt diese spannende Biografie auch das deutsche und amerikanische städtische Kulturleben vor und zwischen den beiden Weltkriegen wieder und lässt mit ihrer Fülle an Details dessen großes Spektrum erahnen, bevor die Nazidiktatur allem ein Ende setzte.
Sabine Fröhlich: Margarete Dessoff 1874-1944. Chordirigentin auf dem Weg in die Moderne, Wolke Verlag Hofheim 2020, 368 Seiten, geb. 29,80 Euro.