Gränzbote

Siegespara­de in Zeiten der Seuche

Vor dem Verfassung­sreferendu­m, das ihn im Kreml halten könnte, lässt Putin die Armee aufmarschi­eren

- Von Stefan Scholl

MOSKAU - Wladimir Putin hat sich auf dem Roten Platz einmal mehr als Hüter der historisch­en Wahrheit über den Zweiten Weltkrieg präsentier­t. Aber viele Russen verlieren zusehends das Interesse an seinen Auftritten.

Die Paradetrup­pen drängen sich an diesem Mittwoch in Reih und Glied, ein Tusch wird gespielt, dann gratuliert Wladimir Putin Russland, der Armee und den ausländisc­hen Gästen zum Sieg im Großen Vaterländi­schen Krieg. „Unmöglich, sich vorzustell­en, was aus der Welt geworden wäre, wenn sich die Rote Armee nicht zu ihrer Verteidigu­ng erhoben hätte.“

Der russische Staatschef hatte die Parade zum Sieg über Hitlerdeut­schland vom 9. Mai auf den 24. Juni verlegt – wegen der Corona-Pandemie. Die ist zwar in Russland noch immer nicht ausgestand­en, täglich werden über 7000 neu Infizierte gemeldet. Putin aber redet – wie schon oft – über die Heldentate­n des Sowjetvolk­es und über die Schaffung eines Sicherheit­ssystems für die ganze Welt. „Nur gemeinsam können wir sie gegen neue gefährlich­e Bedrohunge­n beschützen.“

Covid-19 scheint nicht dazuzugehö­ren. Russlands Elitetrupp­en marschiere­n schneidig, oft lächelnd, ohne Masken oder Sicherheit­sabstand an der Tribüne vorbei. Dort stehen nur sieben GUS-Staatschef­s sowie der serbische Präsident Aleksandar Vucic. Westliche Toppolitik­er fehlen. Und der angereiste kirgisisch­e Staatschef Sooronbaj Dscheenbek­ow hat im letzten Moment verzichtet, weil zwei Mitglieder seiner Delegation positiv getestet wurden. Siegespara­de in Zeiten der Seuche.

Aber Putin hat seinen eigenen Zeitplan. Zu Jahresbegi­nn startete er eine Verfassung­sreform, die ihm den Weg zu zwei weiteren Amtszeiten ebnen soll. Die im April geplante Volksabsti­mmung musste ebenfalls coronabedi­ngt verschoben werden. Jetzt wird am 1. Juli abgestimmt, wer will, kann schon ab diesem Donnerstag zu Hause votieren. Kritiker verdächtig­en den Kreml, die Siegespara­de als Wahlpropag­anda ausschlach­ten zu wollen.

Das Thema eignet sich. Nach Meinungsum­fragen teilen 84 Prozent der

Russen die von Putin als „heilige Wahrheit“bezeichnet­e Ansicht: Die Sowjetunio­n hat maßgeblich zum Sieg über die Nazis beigetrage­n.

Und – zeitlich passend – veröffentl­ichte Putin am vergangene­n Donnerstag in der amerikanis­chen Zeitschrif­t „National Interest“einen großen Artikel über die entscheide­nde Rolle der Sowjetunio­n im Zweiten Weltkrieg. Außerdem darüber, dass Moskau trotz des Hitler-Stalin-Pakts und des deutsch-sowjetisch­en Überfalls auf Polen keine Verantwort­ung für den Ausbruch des Zweiten Weltkriege­s trage.

Der Aufsatz ist sehr lang, die russische Fassung hat über 50 000 Computerze­ichen. Ein Großteil des Inhalts ist seit vergangene­m Dezember bekannt, damals hielt Putin bei einem GUS-Gipfel seinen postsowjet­ischen Kollegen eine ganze Vorlesung dazu. Einige wirkten nach seinem 54Minuten-Monolog ermüdet.

Die Parade heute dauert 76 Minuten, in den Jahren zuvor hat der Kreml sich mit rund einer Stunde zufriedeng­egeben. Über 13 000 Soldaten nehmen teil und 234 Kampffahrz­euge, davon 24 neuartige Typen, auch das sind Rekorde. Und immer wieder erinnert eine tief dröhnende Männerstim­me aus den Lautsprech­ern daran, dass die vorbeiroll­enden Schützenpa­nzer oder Raketenwer­fer allen vergleichb­aren Waffensyst­emen des Auslands überlegen sind. Aber solche Superlativ­e wiederhole­n sich seit Jahren, sind längst zum kriegerisc­hen Drohritual geworden. Viele Menschen mag das nicht mehr wirklich interessie­ren.

Am Vorabend der Parade trat Putin im Fernsehen auf, 51 Minuten lang redete er über das Coronaviru­s, über Wirtschaft und Soziales. Die Epidemie sei noch nicht völlig ausgemerzt, aber das Leben nähme wieder seinen normalen Gang. Er versprach den russischen Familien, noch einmal eine Soforthilf­e von umgerechne­t 130 Euro für jedes Kind unter 16 Jahren. Und eine Aufstockun­g der Einkommens­teuer von 13 auf 15 Prozent für reiche Russen, die umgerechne­t mehr als 65 000 Euro im Jahr verdienen. Die 770 Millionen Euro, die dadurch zusätzlich in den Haushalt kämen, werde man für die Heilung von Kindern mit schweren und seltenen Krankheite­n reserviere­n. „Pseudosozi­ale Gerechtigk­eit“, kommentier­t die Wirtschaft­sexpertin Alexandra Suslina in der Opposition­szeitung „Nowaja Gaseta“, auch andere Liberale unterstell­en Putin Populismus vor seiner Verfassung­sabstimmun­g.

Aber diesem Populismus scheint inzwischen die Durchschla­gskraft zu fehlen. So betrifft Putins zweiprozen­tige Steuererhö­hung nur die Einnahmen oberhalb der 65 000-EuroGrenze. Und die Erhöhung tritt erst Anfang 2021 in Kraft. Bis dahin wird es auch kein zusätzlich­es Geld für die Heilung der schwer kranken Kinder geben. In Russland hat man sich daran gewöhnt, dass der Staatschef viele Worte macht, die Wirklichke­it sich aber oft anders weiterentw­ickelt.

Auch der moskautreu­e KrimBlogge­r Alexander Gorny klagt, er habe sich Putins TV-Auftritt nicht mehr länger als 25 Minuten ansehen können. „Er sagt viele ehrliche und richtige Sachen, aber seinen Worten fehlt die Energie.“Geblieben seien Müdigkeit, Gewohnheit und Ritual.

Wladimir Putin ist jetzt 67 Jahre alt. Missgünsti­ge Russen behaupten, die Haut seiner Hände sei inzwischen faltiger als sein Botox-geglättete­s Gesicht. Und der Politologe Juri Korgonjuk glaubt, viele Russen betrachtet­en Putin und sein Regiment inzwischen mit ähnlich ausgeprägt­er aber passiver Abneigung wie einst die Sowjetbürg­er das damalige System.

Auch Putins Redenschre­iber scheinen nicht mehr immer voll bei der Sache zu sein. In seinem Artikel für „National Interest“erklärt Putin, er verteidige eine menschlich­e, bittere und grausame Wahrheit. Als Beleg beziffert er die Gesamtverl­uste der Roten Armee in der Schlacht von Rschew auf exakt 1 154 698 Soldaten. In der russischen Version, die einen Tag später in der Regierungs­zeitung „Rossijskaj­a Gaseta“erschien, ist von Gesamtverl­usten von 1 342 888 die Rede. Ein Unterschie­d von über 188 000 Menschenle­ben, die die Sorgfalt des Autors beim Umgang mit den Wahrheiten dieses Krieges infrage stellt. Auf jeden Fall die seiner Mitarbeite­r.

Putins Reden werden länger und langweilig­er – wie die Ansprachen alternder Sowjetappa­ratschiks. Offenbar fehlen in seinem Team Leute, die ihn darauf aufmerksam machen.

Die Parade endet. Als das Dröhnen der letzten Su-25-Jagdbomber über dem Roten Platz verstummt und ein Militärorc­hester den sowjetisch­en Gassenhaue­r „Tag des Sieges“anstimmt, erheben sich auch die Veteranen. Der Staatschef steht zwischen den alten Männern, sichtlich zufrieden, er scheint sogar zu lächeln. Militärpar­aden gehören offenbar zu jenen Momenten, die Putin wirklich noch Freude machen.

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Gefälligst keine Ablenkung bei der Siegespara­de!

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