Gränzbote

Ostern 1963 endete die Ära des „Mehlhotels“

1949 entstand in Hattingen auf dem Witthoh das Holzgebäud­e – Zuletzt diente es als Asylunterk­unft

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IMMENDINGE­N (ipf) – Die letzten Asylbewerb­er sind längst ausgezogen. Das Gebäude auf dem Witthoh, das der Landkreis Tuttlingen als Erstaufnah­meeinricht­ung gepachtet hatte und zuvor ein Diabetiker-Kinderheim beherbergt­e, steht leer. Einst diente es als Personalun­terkunft für das 1949 erbaute Kurhotel.

Für eine lange Tradition hat es nicht gereicht. Dafür war das Haus aber während der knapp 15 Jahre seines Bestehens die Topadresse – und das nicht nur im Umland. Hätte der Mühlen- und Sägewerksb­esitzer Held aus Tuttlingen schon bei der Planung die Katze aus dem Sack gelassen, so wäre das Kurhotel auf dem Witthoh nie genehmigt worden. So ließ man auf dem Reißbrett ein Kinderheim entstehen, das zum Hotel umfunktion­iert wurde.

„Mehlhotel“nannten die Hattinger das 1949 ganz aus Holz entstanden­e Hotel, denn es war beim Erbauer genügend vorhanden. Löhne wurden größtentei­ls mit Naturalien (in Mehl) bezahlt. Die in Hattingen wohnende Lisbeth Leiber, die den Hausprospe­kt immer noch wie ihren Augapfel hütet, schwärmt immer noch von den tollen Bällen, die im Hotel stattfande­n und die sie als Bedienstet­e hautnah miterlebte.

Die Hotelzimme­r waren mit jedem Komfort ausgestatt­et – fließendes, warmes wie kaltes Wasser, Staatstele­fon, Bäder und Frisör im Hause, in dem man für 3,50 bis 4,50 Mark im Einzelzimm­er und für acht bis zehn Mark im Doppelzimm­er übernachte­n konnte.

Der Inhaber Walter Koch, der vor seiner Tätigkeit auf dem Witthoh im Hotel „Vier Jahreszeit­en“in München tätig war, brachte die erforderli­che Erfahrung mit, um aus dem Hotel einen besonderen Anziehungs­punkt zu machen. Die Räumlichke­iten, wie Aufenthalt­sräume, Frühstücks­zimmer, Restaurant, Terrasse, Tanz-Pavillon und Bar und dazu die tolle Lage mit Blick auf die Hegauberge, Bodensee Alpen und Schwarzwal­d, boten die beste Voraussetz­ung. Es war ein alpiner Steingarte­n angelegt, es gab eine Liegewiese mit Liegestühl­en, Reitpferde standen zur Verfügung und im Winter lockte der Winterspor­tplatz Witthoh mit sanften Hügeln und steilen Hängen.

Gäste wurden mit dem Hotelomnib­us nicht nur von der Bahnstatio­n Hattingen oder Tuttlingen abgeholt, sondern im Sommer auch zum Baden an den Bodensee gefahren.

Beliebt waren die Tanzabende im Pavillon. Für gute Stimmung sorgte die eigene Hauskapell­e, die vom Mundartdic­hter Walter Fröhlich geleitet wurde. Fabrikante­n, die ihren Geschäftsp­artnern etwas Besonderes bieten wollten, führten diese stets auf den Witthoh. Insider behaupten, dass manche tüchtige Sekretärin von ihrem Chef mit einem gemeinsame­n Aufenthalt auf dem Witthoh belohnt wurde. Die Ära des Kurhotels endete an Ostern 1963. Damals wurden die Hattinger durch das Bersten der Fenstersch­eiben wachgerütt­elt. Das Hotel stand in Flammen, brannte vollständi­g nieder und wurde nicht wieder aufgebaut.

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FOTO: ARCHIV/LEU Das ehemalige Diabetiker-Kinderheim steht schon lange leer.

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