Kollektives Versagen
Nach dem Bilanzskandal bei Wirecard stehen Finanzaufsicht und Wirtschaftsprüfer am Pranger
FRANKFURT/RAVENSBURG - Nach der Pleite des Dax-Konzerns Wirecard stellt sich nun die Frage, was alles schiefgelaufen ist, dass es zu solch einer Situation kommen konnte. „It takes two to tango – einen Betrüger und andere, die das nicht bemerken“, bringt der Aktienstratege der Baader Bank, Robert Halver dies auf den Punkt. Die Blicke richten sich auf die Verantwortlichen im Konzern – hier agiert nun vor allem die Staatsanwaltschaft in München. Sie richten sich aber auch auf den langjährigen Wirtschaftsprüfer des Konzerns, EY. Und auf die Aufsichtsbehörde Bafin. „Ein solcher Skandal sollte ein Weckruf sein, dass wir mehr Aufsicht brauchen“, mahnte Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD). Das sei man den Beschäftigten, Aktionären und dem Finanzplatz Deutschland schuldig. Das Bundesfinanzministerium prüfe nun die vorhandenen Aufsichtsstrukturen und werde in den kommenden Tagen ein Konzept ausarbeiten.
Viele Kleinanlager hatten ihr Geld in das vermeintliche Börsenwunderkind gesteckt, das vor zwei Jahren die Deutsche Bank im Börsenwert überholte und die altehrwürdige Commerzbank aus dem Dax stieß und auf die Ränge im Mdax verwies. Eine Wirecard-Aktie war Mitte vergangener Woche noch über 100 Euro wert, am Freitag kostete ein Anteilsschein an der Frankfurter Börse nur noch wenig mehr als einen Euro. Die Verluste für die Anleger allein in diesen acht Handelstagen summieren sich auf gut zwölf Milliarden Euro.
Der Präsident der Finanzdienstleistungsaufsicht Bafin, Felix Hufeld, spricht von einem Desaster und räumte Versäumnisse seiner Behörde ein. Am Mittwoch soll Hufeld im Finanzausschuss Rede und Antwort stehen. Gerhard Schick, Vorstand der Bürgerbewegung Finanzwende kritisiert, dass vor allem der Blick der Aufsicht in den vergangenen Jahren zu beschränkt blieb. „Das Problem war vor allem, dass man nur formal jeweils auf die WirecardBanktochter geschaut hat. Niemand kam auf die Idee, sich diesen großen Finanzkonzern mal insgesamt anzuschauen. Das aber wäre auch bei gegebenen Regeln möglich gewesen.“
Gerade in Zeiten, wo im Rahmen der zunehmenden Digitalisierung neue Finanzdienstleister entstehen, die im Zweifel schnell wachsen und global agieren, sei eine entsprechende Antwort seitens der Aufseher notwendig. „Meine Forderung wäre, dass so große Finanzdienstleister in Zukunft von der europäischen Zentralbank beaufsichtigt werden.“
Die Bürgerbewegung Finanzwende fordert eine unabhängige Untersuchung des Falls. Unrühmlich ist die Rolle der Finanzdienstleistungsaufsicht Bafin im Fall Wirecard auch deswegen, weil es seit Langem viele Hinweise gab, dass es in der Wirecard-Bilanz und bei Töchtern im asiatischen Raum nicht mit rechten Dingen zugehe. Die „Financial Times“hatte das in einer Serie von Artikeln beschrieben. Statt diesen Hinweisen nachzugehen hatte die Bafin Anzeige gegen die Journalisten der Zeitung wegen des Verdachtes auf Marktmanipulation erstattet. „Es ist wirklich skandalös. Wo die Bafin etwas gemacht hat, ist sie in der falschen Richtung tätig gewesen. Sie hat die Aufklärer angegriffen, anstatt den Vorwürfen wirklich nachzugehen.“
Doch auch die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft EY hat es offenbar lange Zeit nicht für nötig befunden, den Vorwürfen gegen Wirecard auf den Grund zu gehen. Rund zehn Jahre hat sie die Wirecard-Bilanzen als einwandfrei testiert. Erst vor wenigen Tagen haben sich die Prüfer geweigert, ihren Stempel unter die Bilanz zu setzen. „Die Prüfungsgesellschaft EY, die hier doch seit längerer Zeit tätig ist, hätte dem intensiver nachgehen müssen und hat die Luftbuchungen nicht genug hinterfragt“, sagt Wolfgang Gerke vom Bayerischen Finanzzentrum.
Die Schutzgemeinschaft der Kapitalanleger hat am Freitag bekannt gegeben, Strafanzeige gegen zwei amtierende und einen ehemaligen Abschlussprüfer von EY zu stellen. Nach Informationen des Nachrichtenmagazins „Spiegel“will auch der japanische Technologiekonzern Softbank EY juristisch in Anspruch nehmen. Softbank hatte im vergangenen Jahr eine Wandelanleihe von Wirecard im Volumen von 900 Millionen Euro gezeichnet. Und auch die auf Kapitalmarktrecht spezialisierte Kanzlei Tilp aus Kirchentellinsfurt bei Stuttgart, will ihr bereits Mitte Mai gegen Wirecard angestrengte Musterverfahren vor dem Landgericht München auf EY erweitern.
Die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft selbst spricht – ungeachtet ihrer Verschwiegenheitspflicht – von einem ausgeklügelten, weltumspannenden Betrugssystem, mit dem sie und Anleger hinters Licht geführt worden seien und versteht sich selbst als Aufklärer in der aktuellen Situation. So weist EY explizit darauf hin, dass es die eigenen Abschlussprüfer
gewesen seien, die die gefälschten Belege über die nicht auffindbaren 1,9 Milliarden Euro einer philippinischen Bank aufgespürt hätten. Doch dies beantwortet die Frage nicht, was mit den von EY testierten Wirecard-Abschlüssen der Jahre 2018 und davor ist.
Der Zusammenbruch von Wirecard hat auch die EU-Kommission auf den Plan gerufen. So will Brüssel prüfen lassen, ob die deutsche Finanzaufsicht Bafin bei der Kontrolle über den Zahlungsdienstleister versagt hat. Diesen ungewöhnlichen Schritt hat die Kommission am Freitag mitgeteilt. Die Bundesregierung sprach von einem „besorgniserregenden Fall“. Nun müsse die Staatsanwaltschaft klären, ob ein Bilanzbetrug vorliegt. Schwächen bei Kontrollmechanismen müssten nun behoben werden. Rechtsanwalt Andreas Tilp geht davon aus, dass die Causa Wirecard eine Initialzündung für eine schärfere Aufsicht und neue Gesetze ist.