Ruhige Nächte in Stuttgart
Nach den Krawallen bleibt es am Wochenende friedlich
STUTTGART (AFP) - Nach den jüngsten Ausschreitungen in der Stuttgarter Innenstadt ist es am Wochenende weitgehend ruhig geblieben. Die Polizei war in Baden-Württembergs Landeshauptstadt mit mehreren Hundert Beamten im Einsatz, um eine erneute Eskalation der Lage zu verhindern. Die hohe Sichtbarkeit habe offenbar gewirkt, sagte ein Polizeisprecher. Stuttgarts Oberbürgermeister
Fritz Kuhn (Grüne) reagierte am Sonntag erleichtert und dankte den Beamten für ihre Präsenz und ihr besonnenes Auftreten.
Vergangenes Wochenende hatten in Stuttgart Hunderte randaliert und Polizisten angegriffen Nach Angaben der Staatsanwaltschaft vom Sonntag sind derzeit 33 Tatverdächtige identifiziert, elf befinden sich in Untersuchungshaft.
STUTTGART - Ein bisschen etwas hat der junge, drahtige Mann schon intus: wohl Bacardi-Rum. Die entsprechende halbleere Flasche in der einen Hand und ein voller Becher in der anderen legen dies nahe. Auch seine Freunde sind versorgt. Gemütlich nippen sie am Getränk.
Aufgepeitscht ist keiner in der Runde, trotz laut schallender HipHop-Musik. Entspannt hocken sie am Samstagabend bei beginnender Dunkelheit auf Steinen im Oberen Schlossgarten von Stuttgart. „Wollen Sie auch etwas Bacardi?“fragt der Bursche höflich. Murat lautet sein Name. Er und seine Kumpels haben ganz offensichtlich Spaß – eine Clique unter Aberhunderten von Vergnügungslustigen, die sich dort rund um den Eckensee breitgemacht haben – also an dem Ort, der eine Woche zuvor zum Krisengebiet geworden war.
„Ich erzähl’ Ihnen mal, wie es war“, sagt Murat bereitwillig. Nach seinen Worten hätten sechs Polizisten einen der Schlossgarten-Besucher am Boden fixiert. Murat meint damit den Auslöser der darauf folgenden, überregional für Aufsehen sorgenden Krawalle und Plünderungen. Am vorhergehenden Samstag gegen 23.30 Uhr war es zu einer Personenkontrolle gekommen. Polizisten durchsuchten einen widerstrebenden 17-Jährigen auf Drogen. „Die waren sechs gegen einen. Da muss man doch helfen“, sagt Murat.
Seine Erklärung offenbart eine etwas krude Vorstellung von Polizeieinsätzen – so als ginge es hierbei zu wie beim Kräftemessen unter Jugendlichen. Jedenfalls, fährt er fort, seien viele dorthin gerannt. „Was aber dann passiert ist“, betont Murat, „war richtig scheiße.“Das hört sich an, als sei er selber geschockt von den Ausschreitungen. Wobei solche Aussagen am Samstag eine Woche nach der Krawallnacht oft im Oberen Schlossgarten zu hören sind, regelmässig mit dem Zusatz garniert, so etwas dürfe nicht wieder vorkommen – auch weil es das wochenendliche Feiern störe. Aber ein erstes Mal hat es eben trotzdem gegeben: Szenen, wie sie Stuttgart noch nie erlebt hat.
Bei zig jungen Männern hakte es an diesem 20. Juni praktisch aus. Die Polizei schätzt, dass 500 Randalierer unterwegs waren. Sie gingen nicht nur die Staatsgewalt an und demolierten Fassaden, Straßenlaternen oder Sonstiges, was ihnen im Weg war. Ebenso wurden in Stuttgarts Einkaufsmeile, der Königstraße, neun Geschäfte geplündert. Der Schaden erreichte Millionenhöhe. 19 Beamte wurden verletzt. Die Polizei zählt inzwischen 33 identifizierte Gewalttäter. Davon hat die Mehrheit einen Migrationshintergrund, heißt es von ihrer Seite. Elf sitzen in Untersuchungshaft.
Nach den Schock-Ereignissen stand für die baden-württembergische Landeshauptstadt zudem eine ganze Woche die Frage im Raum: Würde sich der Gewaltausbruch am folgenden Samstag wiederholen? Die Spannung wuchs – zumal Leute aus der Schlossgartenszene über soziale Medien im Internet während der vergangenen Tage noch eine Steigerung der Randale ankündigten. Die Politik erschien plötzlich hyperakiv. Baden-Württembergs Innenminister Thomas Strobl (CDU) forderte eine verstärkte Videoüberwachung, Aufenthaltsund Alkoholverbote. Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) verlautbarte: „Wir müssen wieder in einen Zustand kommen, wo der allgemeine Respekt vor der
Polizei nicht abnimmt, sondern zunimmt.“
Zur moralischen Unterstützung der Staatsseite reiste unter der Woche extra Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) aus Berlin an. Landespolizeipräsidentin Stefanie Hinz versprach, dass sich so eine Randale in Stuttgart nicht wiederholen werde. Um den Worten schnell Taten folgen zu lassen, marschieren die Sicherheitskräfte diesen Samstag massiv auf – dezent verschleiert, wie Beamte zu verstehen geben. Stuttgart sollte bei schönstem Partywetter nicht wie eine belagerte Festung wirken, machte der Stuttgarter Polizeipräsident Franz Lutz klar. Hunderte Bereitschaftspolizisten verteilen sich deshalb mit ihren Mannschaftswagen: ein Dutzend im Hof des neuen Schlosses, eine Kolonne beim Bahnhof und gleich daneben bei der S21-Baustelle, ein weiteres Trüpplein zwischen den voll mit Feiernden belegten Stufen der Oper und dem Landtag. Tatsächlich wenig auffallend.
Zu Beginn des Abends muss man die Beamten sogar fast schon suchen. Dies ist jene Zeit, in der sich der Obere Schlossgarten ebenso wie der angrenzende Schlossplatz inklusive Kleinem Schlossplatz füllt. Eine Mischung aus Volksfestatmosphäre, Picknick- und FreibadFeeling macht sich breit. CoronaMasken oder Seuchen-Abstände spielen keine Rolle. Auf dem Rasen lagern überall Menschen. Wobei sich bei genauerem Hinschauen Unterschiede entdecken lassen: Jüngere zieht es eher in den Oberen Schlossgarten.
„Das ist unser Partyplatz“, erklärt der 20-jährige Dersim, kurdisch-stämmig, wie er stolz erklärt. Sein Kumpel Igor greift indes zu Cola-Whiskey. Als weiterer Spezl tritt ein Marvin hinzu. Es sei ein klasse Abend, finden alle zusammen. Dies tun auch die Freundinnen der Männer. Es geht fröhlich zu, der Alkohol hilft offensichtlich. Er wird in Taschen hertransportiert – mitgebracht von dort, wo die Zecher herkommen: längst nicht bloß aus Stuttgart, sondern aus der ganzen Gegend. So hat sich zufälligerweise am Samstagnachmittag weitab von der Hauptstadt am Bahnhof von Marbach am Neckar folgende Beobachtung machen lassen: Drei Asylbewerber aus Nigeria warten auf die S-Bahn in die Landeshauptstadt, erklären auf Anfrage: „Wir fahren zum Chillen nach Stuttgart.“25 Minuten sind es von Marbach mit der S-Bahn bis Stuttgart. Und tatsächlich: Später ist das Trio auf dem Platz des Geschehens. Einer davon, Adeolo, sagt grinsend: „Was sollen wir in Marbach. Da ist nichts los.“
Im Oberen Schlossgarten bewegen sich die Nigerianer zur ReggaeMusik aus einem lärmenden Bluetooth-Lautsprecher.
Vielerorts laufen solche Geräte. Bloß zum nahen Landtag hin wird es ruhiger. Dessen Restaurant hat übrigens bis ein Uhr nachts auf. Herren im Anzug und Damen im Kostüm geniesen Wein in langstieligen Gläsern zum Abendessen – mit guter Aussicht auf das Geschehen rund um den Eckensee.
Ihr Blick könnte dabei etwa auf ein nahes Grüpplein fallen, in dessen Reihen die Mitglieder teilweise das Signet Raiders tragen – eine Gang aus dem Filstal. Die Burschen nennen sich untereinander „Bruder“. Einer davon fühlt vor, ob man denn nicht vielleicht Drogen kaufen wolle? Nein, lieber nicht. Worauf einer der Anführer abwinkt und lieber erklärt, weshalb es so anziehend ist, in Stuttgart zu feiern: „Wir haben doch sonst nichts.“Nach einem längeren Gespräch wird dabei deutlich, dass er damit nicht nur meint, keinen sonstigen Platz zum Treffen. Der vielleicht 20-Jährige versteht darunter auch eine prekäre Zukunft: wenig Ausbildung, mieser Job und nach seinem Verständnis keine Hilfe vom Staat: „Da fehlt der Respekt uns gegenüber.“
Vielleicht ist aber auch nur das Selbstwertgefühl der Burschen höchst unterentwickelt. Manchmal wirken sie wie eine Granate mit sensiblem Zünder und damit unberechenbar. Das bedeutet jedoch nicht, dass automatisch eine Explosion erfolgen muss. Als am Samstag die Polizei nach 22 Uhr anfängt, großräumig Personenkontrollen durchzuführen, bleibt die Lage entspannt. Später wird Stuttgarts Oberbürgermeister Fritz Kuhn (Grüne) den Beamten danken, „dass sie mit ihrer Präsenz und mit ihrem besonnenen Auftreten“die Nacht abgesichert hätten. Und wirklich: Die Beamten bitten vor Ort unaufgeregt um Ausweise und bekommen sie im Allgemeinen bereitwillig gereicht. Es wirkt, als nehmen beide Seiten aufeinander Rücksicht. Partygänger Sven kommentiert das Auftreten der Polizei: „Die machen nur ihren Job.“Der neben ihm stehende Harkim nickt.
Eine Woche zuvor hatte die Polizei auch nur ihren Job gemacht – und es war zur Explosion gekommen. Sven philosophiert über das Warum: „Die ganzen Clubs haben zu. Man kann sich nur noch hier treffen. Wegen Corona haben die Leute über Wochen keinen Spielraum gehabt. Frust hat sich aufgebaut – auch Wut, weil dann die Polizei immer wieder kontrolliert hat.“Von den Beamten wird durchaus bestätigt, dass die Krawalle nicht einfach aus heiterem Himmel über Stuttgart hereingebrochen sind. Zuvor hätten Polizisten bei ihrer Präsenz im Oberen Schlossgarten wochenlang erlebt, wie sie immer aggressiver angegangen worden seien.
Diesen Samstag scheint die Suche nach Streit nicht sonderlich relevant zu sein. „Wir wollen keinen Stress. Wir wollen feiern“, betont Murat, der Mann mit dem Bacardi-Rum. Er möchte nochmals nachschenken. Die Flasche ist aber leer, dafür wirkt seine Clique voll. Der Blick auf die Uhr ergibt nach Mitternacht. Aufbruchstimmung macht sich breit – ganz entspannt. Die Krawallfortsetzung ist ausgefallen.