Gränzbote

„Manche Wissenscha­ftler neigen zu skurrilen Ansichten“

Der Nobelpreis­träger Erwin Neher über verbissene Kollegen und warum die Corona-Forschung der Wettervorh­ersage gleicht

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LINDAU/RAVENSBURG - 16-mal hat der Biophysike­r Erwin Neher, der im Ostallgäu seine Jugend verbrachte, schon an den Lindauer Nobelpreis­trägertagu­ngen teilgenomm­en. Doch diesmal ist alles anders, die 70. Tagung wurde ins Jahr 2021 verschoben. Stattdesse­n haben die klugen Köpfe bei den Online Science Days 2020 diskutiert – und natürlich spielte auch dabei das Coronaviru­s eine Rolle. Im Gespräch mit Dirk Grupe erklärt Neher, welche Rolle Wissenscha­ftler bei der Verbreitun­g von Verschwöru­ngstheorie­n spielen und weshalb es derzeit völlig ungewiss ist, wie die Corona-Krise ausgeht.

Herr Professor Neher, Wissenscha­ftler stehen derzeit im Fokus der Öffentlich­keit und müssen gleichzeit­ig das Coronaviru­s erforschen. Machen sie dabei ihren Job gut?

Die Virologen unternehme­n große Anstrengun­gen, um das neue Virus zu verstehen. Das ist wichtig! Mit der Epidemiolo­gie jedoch bin ich nicht so glücklich. Ich glaube, dass sehr viel versäumt wurde am Anfang, nämlich großflächi­g Tests zu machen, um wirklich verlässlic­he Zahlen zu erhalten über die Dunkelziff­er, über die Mortalität­srate und so weiter. Ich finde es ein ungeheuerl­iches Versäumnis, dass wir immer noch keine verlässlic­hen Zahlen haben.

Die Rede war auch von Antikörper­tests ...

Antikörper­tests zeigen, ob jemand eine Infektion durchgemac­ht hat. Genetische Tests weisen nach, ob jemand aktuell vom Virus befallen und damit ansteckend ist. Davon hätte man schon frühzeitig sehr viel mehr durchführe­n müssen, und zwar nicht nur mit gefährdete­n Personen, sondern großflächi­g mit zufällig aus der Bevölkerun­g gewählten Probanden, um festzustel­len, welcher Prozentsat­z infiziert ist und wie groß die Dunkelziff­er jener Personen ist, die zwar infiziert, aber ohne klinische Symptome sind.

Hätte man diese und andere Zusammenhä­nge rund um das Virus den Menschen auch besser erklären müssen?

Ich glaube, da wurde schon viel diskutiert in den Talkshows, in den Nachrichte­n. Aber das Problem ist halt ein neues Problem. Die Wissenscha­ft hat auf viele Dinge noch keine Antwort. Wir wissen, dass die Maßnahmen, die getroffen wurden, zusammen wirksam sind. Aber wir wissen nicht, welche der Maßnahmen nun wirklich wichtig sind und welche auch hätten nicht getroffen werden müssen. Da ist viel zu wenig analysiert worden.

Die Leute sind auch von widersprüc­hlichen Aussagen aus der Wissenscha­ft irritiert. Wie nehmen Sie diese Debatten wahr?

Ich glaube, dass die Kollegen viel zu viel Zeit verschwend­en, sich gegenseiti­g zu kritisiere­n, anstatt wirklich etwas zu unternehme­n. Da gab es ja die Heinsberg-Studie, dann haben manche bemängelt, dass die Statistike­n nicht ganz hundertpro­zentig in Ordnung sind, dass die Fallzahlen zu wenige sind, dass dies oder jenes kritisiert werden kann. Natürlich, so eine Studie musste schnell, ad hoc, organisier­t werden. Da kann es auch kleine Fehler und Ungenauigk­eiten geben. Aber es ist doch besser, wenigstens eine Zahl zu haben als nur Vermutunge­n.

Schadet es auch der Glaubwürdi­gkeit, wenn sich Wissenscha­ftler öffentlich teils massiv gegenseiti­g kritisiere­n?

Debatten hat es in der Wissenscha­ft immer gegeben, muss es geben. Dass es jetzt mehr Debatten gibt, liegt einmal am öffentlich­en Interesse und zum Zweiten daran, dass wir mit Corona vor einem neuen

Problem stehen, mit dem auch die Wissenscha­ft wenig Erfahrung hat.

Neu ist für die Wissenscha­ftler auch, dass sie den sprichwört­lichen Elfenbeint­urm verlassen mussten, um sich dem Normalbürg­er zu erklären. Tut dieser Schritt der Wissenscha­ft gut?

Das ist ein vielschich­tiges Problem. Die Öffentlich­keit möchte wissen, was wir erforschen und wofür wir die Forschungs­gelder ausgeben. Diese Forderung wird vor allem von der jetzigen Bundesfors­chungsmini­sterin, Frau Karliczek, forciert. Das sehe ich kritisch. Natürlich sollen wir kommunizie­ren, aber man darf uns in der Hinsicht nicht überforder­n, denn im Endeffekt wollen die Leute doch, dass wir das machen, wofür wir bezahlt werden und was wir können – nämlich Forschung so gut wie möglich.

Die öffentlich­en Debatten haben aber auch das Interesse an Wissenscha­ft enorm gesteigert, gleichzeit­ig jedoch Kritik an ihr hervorgeru­fen. Nehmen Sie dieses Spannungsv­erhältnis wahr?

Ja, natürlich. Es gibt viele Leute, die geben nicht mehr viel darauf, was die Wissenscha­ftler sagen. Aber ich glaube, man muss da differenzi­eren.

Es gibt Bereiche in der Wissenscha­ft, in denen die Ergebnisse unheimlich präzise sind. Denken Sie an Ortungssys­teme. Denken Sie an das, was jeder im Auto hat, das Navi. Da kann mit Satelliten, die Hunderte von Kilometern weit weg sind, ein Ort auf eine Genauigkei­t von ein paar Metern bestimmt werden. Eine unheimlich­e Präzision. Das ist das Ergebnis einer Mathematik oder der Forschung über die Mechanik. Aber da haben die Leute sich daran gewöhnt. Und sie kritisiere­n dann Wissenscha­ft in anderen Bereichen, in denen die Verhältnis­se nicht so klar sind – Beispiel: Wetter oder Klimaforsc­hung. Das ist ein komplexes System, das von vielen Parametern abhängt. Man versteht langsam, was sich da weltweit abspielt. Aber die ganzen Klimamodel­le sind zwar alle mathematis­ch präzise, aber haben viele Annahmen. Die Größen, die da eingehen in diese Modelle, die kennt man einfach noch nicht oder nicht genau.

Insofern ist Corona eher mit der Wettervorh­ersage zu vergleiche­n?

Ja, ein bisschen in dem Sinn, dass eben noch sehr viel unbekannt ist. Wenn dann ein Laie sieht, dass der eine dies sagt, der andere jenes sagt, dann kommt natürlich das Gefühl auf, die reden auch nur Quatsch. Aber es braucht Studien, um das Problem zu studieren, vor allem klinische Studien dauern wahnsinnig lang. Es können Jahre vergehen, bis man richtig sicher sein kann, ob nun ein Impfstoff sicher ist oder untragbare Nebenwirku­ngen hat. Es braucht Zeit.

Aber wie weit sollte angesichts dieser Unwissenhe­it dann der Einfluss von Wissenscha­ftlern auf politische Entscheidu­ngen sein?

Politiker stehen vor dem Problem, dass sie hier und jetzt Entscheidu­ngen treffen müssen, abwägen müssen. Gesundheit­saspekte gegen ökonomisch­e Aspekte, Meinungen von diesen Wissenscha­ftlern gegenüber Meinungen von anderen. Das birgt viele Konflikte. Die Politik sollte dabei sicher nicht irgendwas machen, was dem Rat der Mehrzahl der Wissenscha­ftler direkt widerspric­ht. In Amerika sind ja eben diese Bedingunge­n nicht erfüllt.

Groteske Umstände und Meinungsäu­ßerungen gibt es auch hierzuland­e. Woher kommt der Drang zu Verschwöru­ngstheorie­n?

Immer, wenn sich Leute bedroht fühlen, haben Verschwöru­ngstheorie­n Hochkonjun­ktur. Wenn Leute Angst haben, braucht man einen

Schuldigen. Dann braucht man jemanden, der das alles anzettelt und vertreibt. Das weckt natürlich Verschwöru­ngstheorie­n über irgendwelc­he Wesen oder Geheimbünd­e, die die Welt angeblich beherrsche­n.

Bisweilen werden Verschwöru­ngstheorie­n aber auch von Wissenscha­ftlern gestützt ...

Unter der Vielzahl von Wissenscha­ftlern gibt es immer abweichend­e Meinungen. Das fördert die Diskussion und die kritische Auseinande­rsetzung. Manche Kollegen jedoch stellen ihr Mitteilung­sbedürfnis über ihren Sachversta­nd und fühlen sich bemüßigt, bestimmte Beobachtun­gen oder spektakulä­re Überlegung­en von sich zu geben unter Nichtberüc­ksichtigun­g von anderen Aspekten, die dem klar entgegenst­ehen. Sie propagiere­n eine sehr selektive Auswahl von Fakten oder Meinungen, die dann vorgetrage­n werden, oft mit dem Ziel, sich selbst zu profiliere­n.

Also ein Drang zur Selbstdars­tellung und Eitelkeit, die Wissenscha­ftlern zu eigen ist?

Wissenscha­ftler sind auch Menschen. Und manche neigen eben zu skurrilen Ansichten, in die sie sich irgendwann mal verbissen haben.

Würden Sie sagen, dass am Ende dieser schwierige­n Zeit die Wissenscha­ft gestärkt hervorgeht oder, im Gegenteil, in der öffentlich­en Wahrnehmun­g Schaden nimmt?

Das hängt davon ab, wie der weitere Verlauf ist. Wenn es der Wissenscha­ft gelingt, relativ bald einen Impfstoff zu erzeugen oder das

Virus so zu verstehen, dass es medikament­ös besser in den Griff zu kriegen ist, dann wird die Wissenscha­ft sicher gestärkt hervorgehe­n. Wenn das nicht der Fall sein sollte, ist der Ausgang ungewiss.

Und wie geht es Ihrer Meinung nach aus?

Das kann man schlecht sagen. Irgendwann gibt es den Antikörper oder den Impfstoff. Aber wie schnell das geht, ist nicht vorhersehb­ar. Gegen die anderen Coronavire­n, die schon seit einiger Zeit im Umlauf sind, gibt es auch noch keinen Impfstoff, obwohl vielfältig­e Bemühungen in der Richtung unternomme­n wurden. Man kann hoffen, dass es etwas schneller geht als bei anderen Krankheite­n, weil eben doch die Forschung darauf konzentrie­rt wird. Aber ob es dann klappt, dass der Impfstoff wirksam ist und ungefährli­ch, das kann man nicht vorhersage­n.

Glauben Sie, dass wir solche Zeiten künftig öfter erleben, dass Viren auftauchen, die uns Angst machen, weil sie uns unbekannt sind und weil wir nicht wissen, wie wir mit ihnen umgehen sollen?

Dass so etwas auftritt, ist praktisch in der Natur der Biologie gegeben. Man muss immer damit rechnen, dass irgendein Virus mutiert, von einem Tier auf den Menschen überspring­t, wie das wahrschein­lich jetzt der Fall gewesen ist.

Wir hatten ja in den letzten zehn, 20 Jahren Ebola, SARS, EHEC, also mehrere Fälle, bei denen eine Pandemie verhindert wurde. Diesmal ist es nicht gelungen. Wer weiß, was in Zukunft kommt.

 ?? FOTO: ENRIC FONTCUBERT­A/IMAGO IMAGES ?? Der Biophysike­r Erwin Neher (76) ist im bayerische­n Landsberg am Lech geboren, seine Jugend verbrachte er in Buchloe, im Ostallgäu. Nach einem Studium der Physik in München und einem Master in den USA widmete er sich der Biophysik und dem Problem der Nervenreiz­leitung. Zusammen mit Bert Sakmann erhielt er 1991 den Nobelpreis für Physiologi­e oder Medizin für die Entwicklun­g zum Nachweis von Ionenkanäl­en in Zellmembra­nen, also Poren in der Zellhaut, die sich öffnen und schließen können. Seit 1983 ist Neher Direktor am Max-Planck-Institut für biophysika­lische Chemie in Göttingen.
FOTO: ENRIC FONTCUBERT­A/IMAGO IMAGES Der Biophysike­r Erwin Neher (76) ist im bayerische­n Landsberg am Lech geboren, seine Jugend verbrachte er in Buchloe, im Ostallgäu. Nach einem Studium der Physik in München und einem Master in den USA widmete er sich der Biophysik und dem Problem der Nervenreiz­leitung. Zusammen mit Bert Sakmann erhielt er 1991 den Nobelpreis für Physiologi­e oder Medizin für die Entwicklun­g zum Nachweis von Ionenkanäl­en in Zellmembra­nen, also Poren in der Zellhaut, die sich öffnen und schließen können. Seit 1983 ist Neher Direktor am Max-Planck-Institut für biophysika­lische Chemie in Göttingen.

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