Plötzlich zählt die Maske
Bei den Eidgenossen steigt die Zahl der Corona-Infizierten wieder - Nun müssen sie wenigstens in Bussen und Bahnen Nase und Mund bedecken
- Richtig ordentlich geht es mit den Nasen-Mund-Masken zu – so wie es dem Klischee der Eidgenossen entspricht. Wer etwa am Montagmorgen am umtriebigen St. Galler Bahnhof in den Zug eilt, darin sitzt oder ihn verlässt, hat den Corona-Schutz auf. Etwas Neues für die Schweiz – ganz anders als in Deutschland, wo sich die Menschen an ein Leben mit der Maske inzwischen gewöhnt haben – zumindest mehr oder weniger. Bei den Eidgenossen ist die Regel, wenigstens in Bussen und Bahnen die Nase sowie den Mund zu bedecken, aber erst jetzt zum Wochenbeginn in Kraft getreten. „Schon lästig“, meint Calvin Hörle, ein junger Monteur, der auf dem Bahnsteig wartet, bis sein Zug kommt. Er ergänzt jedoch: „Lieber so als eine zweite Welle.“
Damit spricht Hörle aus, was beim Nachbarn südlich des Bodensees befürchtet wird: Wegen steigender Infektionszahlen könnte das Virus mit Kraft zurückkehren. Dies steckt hinter dem Ausdruck „zweite Welle“. So meldete das Schweizer Gesundheitsamt vergangene Woche Alarmierendes. Demnach stiegen die Zahlen der Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner jüngst in den meisten der 26 Kantone an. Im Jura an der Grenze zu Frankreich war es besonders extrem. Die Ziffer pro 100 000 Einwohner stieg von 2,7 auf 12,3. Anderswo gab es zumindest eine Verdopplung. „Das erwischt einen wie ein überraschender Schlag in den Bauch“, berichtet Marius Toscan am St. Galler Bahnhof. „Wir hatten Corona doch eigentlich hinter uns.“Dann nimmt der Polymechaniker mit frustrierter Miene seine Maske, stülpt sie übers Gesicht und drängt sich in den Zug ins nahe Romanshorn.
In der Tat schienen die Eidgenossen noch vor Kurzem auf dem Weg in Richtung einer Insel der Corona-Seligen. Die Neuinfektionen waren bereits auf ein fast vernachlässigbares Niveau gefallen – sogar im anfangs besonders gebeutelten Tessin mit seinem engen Kontakt zu den norditalienischen Katastrophengebieten. Die Kantone am Bodensee verzeichneten sogar Zeiträume ohne einen Anstieg an Corona-Kranken. Anders als etwa im Tessin waren hier noch nicht einmal die Einschränkungen besonders einschneidend gewesen: keine Maskenpflicht in Läden, geöffnete Lokale. Auch im Vergleich zu Deutschland oder Österreich wirkte vor allem die Nordostschweiz als leger im Umgang mit Corona. Eidgenössischer Insiderspott auf Kosten der ländlich lebenden Appenzeller oben in den Bergen Richtung Alpstein-Massiv verhieß sogar: „Die wissen doch noch gar nicht, dass es das Virus gibt.“
Momentan scheint aber die Bereitschaft zu Corona-Witzeleien reduziert zu sein. „Muss es jetzt gerade noch mal ernst werden?“, fragt Hildegard Bruggmann rhetorisch im Wartesaal des monumentalen Bahnhofsgebäudes von St. Gallen. Sie sei ja schon so alt und habe Schwierigkeiten, das Masken-Gummi über das Hörgerät am Ohr zu bringen. Die Rentnerin will jetzt erst einmal daheim ausharren. Bloß ein Arztbesuch habe sie aus dem Haus getrieben. Ungeschickterweise sei der Doktor nur via Eisenbahn zu erreichen.
Wie sie so auf ihrem Bänklein sitzt, wirkt die alte Frau beinahe mitleiderregend. Fast will man sie trösten. Mit Blick auf aktuelle Corona-Hiobsbotschaften aus den USA oder aus Brasilien wirken die Schweizer Zahlen nämlich fürs Erste überschaubar. So wurden von Sonntag auf Montag gerade mal 47 Neuinfektionen gemeldet. Die Gesamtzahl der Erkrankten lag bei 35 315 Menschen. Die Schweiz ist aber ein kleines Land. Es hat 8,6 Millionen Einwohner, zweieinhalb Millionen weniger als Baden-Württemberg. Im Vergleich zur weiten Welt wirken vermeintlich niedrige Zahlen in der Schweiz also dramatischer. Hinzu kommt das besagte Gefühl der Erleichterung, dass das Gröbste hinter einem liege. Nun breitet sich hingegen Enttäuschung aus – ebenso Angst. Die Zürcher Professorin Tanja Stadler, Mitglied in der Covid-19-Taskforce des Bundesrats, wird in einerZeitung zitiert: „Die Entwicklung ist sehr besorgniserregend.“
Mancher brave Bürger zweifelt offenbar auch schon am Tun seiner Obrigkeit: „Der Bundesrat hätte nicht so schnell Lockerungen genehmigen dürfen“, schimpft eine Kioskbetreiberin in St. Margrethen, einer Grenzgemeinde des Kantons St. Gallen zu Vorarlberg hin. Gäste, die sich bei ihr am Stehtisch einen Kaffee genehmigen, stoßen ins selbe Horn. Sie fragen auch, weshalb mit der nun eingeführten Maskenpflicht so lange gewartet wurde? Gab es zu wenig Masken? Sollten die Leute geschont werden? Gab es Rücksicht auf Wirtschaftsbetriebe? Die Antwort bleibt offen. Der Epidemiologe Marcel Tanner von der Uni Zürich meint fast schon ratlos: „Wir haben bereits im April in bestimmten Situationen eine Maskenpflicht empfohlen.“Passiert sei nichts. Aus dem Regierungssitz Bern verlautbart Bundespräsidentin
Simonetta Sommaruga nun: „Gewisse Entscheide wie die Maskenpflicht hätte man vielleicht früher fällen können.“Beispiele aus der benachbarten Staatenlandschaft gab es schließlich, etwa Deutschland oder Österreich. Die Schweiz folgte aber einem anderen Weg.
Am 22. Juni beseitigte die Regierung fast alle der sowieso oft simplen Beschränkungen. Die Rückkehr zum Unterricht in Mittel-, Berufs- und Hochschulen war bereits Anfang Juni möglich gewesen. Volksschulen folgten. Dies dürfte nach wie vor die Eltern zufriedenstellen. Ob aber das Streichen der coronabedingten Sperrstunde für Discotheken und Restaurants vor zwei Wochen nötig war? Selbst Bordelle werben wieder um Kundschaft, wie beim Vorbeifahren an
St. Margrether Ausfallstraßen festzustellen ist. „Das ist doch alles nicht überlebensnotwendig“, ist sich die Runde am Kiosk in der Grenzgemeinde einig. Eine naheliegende Sicht der Dinge. Hinzu kommt jedoch noch ein Zwischenfall in einem Zürcher Nachtclub, der sich in der Schweiz herumgesprochen hat.
Betroffen ist das „Flamingo“in der Nähe des Platzspitzes und des Limmatkais, beides zentrumsnahe Örtlichkeiten, die früher Mittelpunkt der offenen Drogenszene von Zürich waren. Am 21. Juni steckte in dem Club ein Mann fünf weitere Gäste an. Ein sogenannter Superspreader-Event. Weitere 300 Personen mussten in Quarantäne – oder sollten dies zumindest tun. Kontaktdaten waren wie vorgeschrieben erfasst worden. Die Krux dabei: Wie Schweizer Medien berichten, hatten zahlreiche Gäste falsche Angaben gemacht. Allein bei den E-MailAdressen sei ein Drittel falsch gewesen. Wodurch die aktuelle, auch in der Schweiz verfolgte Strategie, einen Corona-Ausbruch rasch einzugrenzen, ins Leere läuft – zumal die „Neue Zürcher Zeitung“vier weitere
Clubs nennt, in denen es ebenso Infektionen wie fehlerhafte Adressen gab. Alle Etablissements entgingen aber einer Schließung. Nur die Vorschriften zur Gästeregistrierung wurden verschärft.
Hoffnung hatte sich die Regierung mit einer freiwilligen TracingApp auf den Handys seiner Bürger gemacht. Das heißt, wer mit Infizierten in Kontakt kommt, sollte umgehend informiert werden. Seit einer guten Woche existiert eine solche App. Rund eine Million Menschen hat sie laut Regierungsangaben bisher heruntergeladen – ungeschickterweise zu wenig, um wirklich zu helfen. Fünfmal so viel wäre angebracht, um einen wirklichen Nutzen zu bringen. „Das glaube ich auch, das müssten viel mehr tun“, sinniert Ibrahim Ilkisiz am St. Margrether Bahnhof, ein Mann mittleren Alters und schütteren Haares. Er spielt auf seinem Smartphone, schlägt die Zeit bis zur Abfahrt tot. Ob er denn die Tracing-App schon heruntergeladen habe? „Nein“, sagt Ilkisiz, „noch nicht.“Er gedenke aber dies demnächst zu tun. Eine Maske für Mund und Nase hat der Mann aber wenigstens schon. Praktischerweise steht am Bahnhofsgebäude um die Ecke seit Wochenbeginn ein Automat für solche Bedeckungen. Für den Moment baumelt sie jedoch nur am Hals. Der Bahnsteig ist noch nicht Masken-pflichtig.
Als der Zug nach St. Gallen hält und Ilkisiz zum Einstieg geht, schiebt er den Schutz hoch über Mund und Nase. Offenbar allgemein beobachtbar. „Praktisch alle Reisenden haben eine Maske getragen“, zieht der Sprecher der Schweizer Bundesbahnen, Daniele Pallecchi, am Montag in einer Pressemitteilung eine erste Bilanz. Am Zug, den Ilkisiz besteigt, berichtet Schaffner Markus Müller: „Das Maskentragen funktioniert bis auf ganz, ganz wenige Ausnahmen.“Wegen dieser „Unruhestifter“würde er aber im Moment kein Aufhebens machen.
Schaffner Müller wirkt entspannt und fügt an, mit der zweiten Welle sei dies ja noch gar nicht sicher. Womit der Bahnbedienstete die Stimmungslage eidgenössischer Seuchenexperten beschreibt. „Obwohl die Zahlen steigend sind, befinden wir uns noch nicht in einer zweiten Welle“, sagt Marcel Tanner von der Uni Zürich. „Die Ansteckungen sind seit Tagen steigend, weshalb man von einer zweiten Welle sprechen kann“, meint ein anderer Forscher, Andreas Cerny aus einem Tessiner Corona-Krankenhaus.
Ähnlich unentschlossen gibt sich ein wartender Passagier am St. Galler Bahnhof im Umgang mit seiner Maske. Der ehemalige Bauarbeiter Werner Künzler berichtet: „Einmal trage ich die Schutzmaske – und dann auch wieder nicht.“
„Das erwischt einen wie ein überraschender Schlag in den Bauch.“
Zugpassagier Marius Toscan kommentiert den aktuellen Anstieg der Corona-Fälle in der Schweiz
„Einmal trage ich die Schutzmaske – und dann auch wieder nicht.“
Werner Künzler wartet am St. Galler Bahnhof und beschreibt seinen Umgang mit dem Virenschutz