Gränzbote

Der lange Schatten eines Tierskanda­ls

Vor einem Jahr haben verstörend­e Bilder von misshandel­ten Rindern aus Allgäuer Ställen viele Menschen erschütter­t – Eine Geschichte über verunsiche­rte Bauern, frustriert­e Politiker und die Frage, was sich ändern muss

- Von Helmut Kustermann und Markus Raffler

- Hier ist die Welt noch in Ordnung. Wer vom Unterallgä­uer Örtchen Zell an der Dorfkirche vorbei in Richtung des Weilers Hohmanns fährt, gewinnt zwangsläuf­ig diesen Eindruck. Wiesen, Wolken und ein Wegekreuz, links und rechts ein paar Bauernhöfe. Eine Oase der Ruhe. Doch ausgerechn­et hier nimmt ein Tierskanda­l seinen Anfang, über den vor einem Jahr die ganze Republik diskutiert hat, und der bis heute nicht aufgearbei­tet ist.

Damals bringt die „Soko Tierschutz“verstörend­e Bilder an die Öffentlich­keit: Sie zeigen etwa, wie der Mitarbeite­r eines Bauernhofs einem kranken Rind gegen den Kopf tritt. Ein anderes Tier wird mit einem spitzen Gegenstand traktiert, eine kranke Kuh von einem Traktor durch den Stall geschleift. Das sind Szenen aus einem der größten deutschen Milchvieh-Betriebe. Er hat damals etwa 1800 Milchkühe und nach Schätzunge­n von Insidern noch mindestens 1000 Jungtiere.

Walter Honold hat mitgeholfe­n, den Skandal aufzudecke­n. Der 52Jährige sitzt an diesem sonnigen Vormittag auf einer Bank vor seinem Bauernhof und sagt mit ruhiger Stimme: „Ich würde alles wieder genauso machen. Auch wenn es mich viele Nerven gekostet hat.“Honolds Hof liegt in Hohmanns, das zur Unterallgä­uer Marktgemei­nde Bad Grönenbach gehört. Im Stall stehen damals Kühe des Großbauern, der zu dieser Zeit Pächter ist. Honold ist unzufriede­n, wie der Hof geführt wird. Er wendet sich an Ämter, fühlt sich dort nicht ernst genommen und kommt in Kontakt mit der „Soko Tierschutz“. Heimlich aufgenomme­ne Videos und Fotos entstehen – in Hohmanns und in einer zweiten, viel größeren Hofstelle auf Bad Grönenbach­er Flur.

Der Erste, der nach der Veröffentl­ichung der Bilder unter Druck gerät, ist der damalige Unterallgä­uer Landrat Hans-Joachim Weirather von den Freien Wählern. Warum, fragt eine entrüstete Öffentlich­keit, haben die Kontrolleu­re des dortigen Veterinära­mtes von den Zuständen bei dem Großbauern nichts mitbekomme­n? Der Landrat geht in die Offensive und listet auf, wie oft er seit dem Jahr 2006 vergeblich versucht habe, vom zuständige­n Umweltmini­sterium mehr Personal für das Veterinära­mt zu bekommen.

Der 61-jährige Weirather ist inzwischen ein Landrat im Ruhestand, doch noch heute klingt Bitterkeit aus seinen Worten: „Mein Vertrauen in die Personen der zuständige­n Fachabteil­ung habe ich längst verloren.“Das Unterallgä­uer Landratsam­t hat jetzt mehr Mitarbeite­r im Veterinära­mt, doch auch den aktuellen Stand hält man in der Kreisbehör­de nicht für ausreichen­d.

Insgesamt 70 zusätzlich­e Tierarztst­ellen an den Veterinärä­mtern hat der Freistaat als Reaktion auf den Tierskanda­l zugesagt. „Allein im Oberallgäu ist die Zahl der Kontrollen um 45 Prozent angestiege­n“, sagt CSU-Landtagsfr­aktionsche­f Thomas Kreuzer. Die könnten nicht alle Verstöße verhindern, „aber sie machen die schwarzen Schafe vorsichtig“. Zudem gibt es jetzt eine Kontrollbe­hörde für Lebensmitt­elsicherhe­it und Veterinärw­esen (KBLV), die für Betriebe mit mehr als 600 Rindern und 500 Kälbern zuständig ist.

Ziel ist es, die Veterinärä­mter zu entlasten: „Bei Auffälligk­eiten in Großbetrie­ben können wir schneller reagieren und aus einem anderen Pool schöpfen“, sagt KBLV-Sprecher Henning Brinkmann. 120 Mitarbeite­r sind für die Behörde vorgesehen. Im Unterallgä­u werde die KBLV nach jetzigem Stand drei Betriebe übernehmen, sagt Sprecherin Sylvia Rustler vom Landratsam­t: „Das ist eine kleine Entlastung, löst aber das Personalpr­oblem nicht.“Nach ihren Angaben zählt das Unterallgä­u knapp 1500 Rinderhalt­er und insgesamt 130 000 Tiere – eine bayernweit­e Spitzenpos­ition.

Ist das Allgäu also ein Hort industriel­ler Milchprodu­ktion? Dem widerspric­ht Kreuzer energisch. Er spricht zwar von „schrecklic­hen Bildern“aus den betroffene­n Ställen. Die ins Visier geratenen Betriebe aber seien Einzelfäll­e, die Dimensione­n der Tierhaltun­g „atypisch“für den Freistaat und speziell für das Allgäu. „Der Durchschni­ttsbetrieb in Bayern zählt 40 Milchkühe“, im Oberallgäu sind es nur 27. Wer in Bayern als Milchbauer Fördergeld kassieren will, dürfe rechnerisc­h maximal zwei Tiere pro Hektar Betriebsfl­äche halten.

Doch der Bad Grönenbach­er Großbauer, der sich zu den Vorwürfen nach wie vor nicht äußert, ist nicht der einzige Allgäuer Landwirt, der ins Visier der Behörden geraten ist. Das gilt auch für zwei weitere Höfe aus der Marktgemei­nde.

Die Ermittlung­en richten sich gegen insgesamt 15 Personen. Die Memminger Staatsanwa­ltschaft hat jetzt die ersten Ermittlung­sergebniss­e von der Polizei bekommen. Viele fragen sich, warum das so lange dauert. „Für jeden einzelnen Tierschutz-Verstoß, für jede Kuh gibt es ein gesonderte­s Gutachten“, antwortet ein Sprecher. „Für ein solches Ermittlung­sverfahren ist das eine fast normale Dauer.“Wann ein Gerichtsve­rfahren stattfinde­t, kann derzeit noch niemand sagen.

Neben den Fällen in Bad Grönenbach werden auch mutmaßlich­e Tierschutz-Verstöße auf drei Höfen in Dietmannsr­ied bekannt. In einem Fall spricht das Landratsam­t Oberallgäu sogar ein „Tierhalte- und Betreuungs­verbot“gegen die Hofinhaber aus. Die Landwirte klagen dagegen, schließlic­h einigt man sich: Die bisherigen Betreiber ziehen sich „altersbedi­ngt“zurück und verkaufen den Hof, der Sohn darf als angestellt­er Landwirt arbeiten.

Walter Honold hat mitgeholfe­n, den Skandal aufzudecke­n

Anton Klotz (CSU), bis Ende April Landrat im Oberallgäu, war mehrmals in dem Betrieb mit damals 480 Milchkühen und etwa 100 Kälbern. „Ich war entsetzt, was ich dort gesehen habe – das war dramatisch“, sagt er. Die Tiere seien teils bis zu den Klauen im Dreck gestanden, 220 von ihnen hätten Schäden oder Erkrankung­en aufgewiese­n. Im Akkord hätten Tierärzte die Rinder untersuche­n müssen, um alle Probleme zu dokumentie­ren. Etliche Tiere wurden notgeschla­chtet.

Mehrmals hatte das Veterinära­mt laut Klotz zuvor wegen diverser Verstöße Anordnunge­n erlassen und ein Bußgeld gegen die Verantwort­lichen verhängt. „Sogar die Flächenprä­mie für Milchviehh­alter wurde um 30 Prozent gekürzt.“Ohne Wirkung. Doch warum griffen die Behörden nicht früher scharf durch und schlossen den Betrieb? „Die rechtliche­n Vorgaben haben kein früheres Eingreifen zugelassen“, verweist Klotz auf das „stumpfe Schwert“der Veterinärä­mter. Zwar wurden laut CSUVertret­er Kreuzer 2019 Buß- und Zwangsgeld­sätze erhöht. Eine Betriebssc­hließung aber komme einem Berufsverb­ot gleich und dürfe – anders als etwa bei einer Kindeswohl­gefährdung durch prügelnde Eltern – nur als letztes Mittel erlassen werden.

Für den Bad Grönenbach­er Großbauer gibt es kein Tierhaltev­erbot, er bekommt aber eine Reihe von Auflagen. „Die Größe des Betriebs wurde um ein Viertel reduziert“, sagt Sylvia Rustler vom Landratsam­t. Immer noch verkehrten ein Tierschutz­beauftragt­er und ein „Expertente­am aus Tierärzten“auf dem Hof, um beim „Aufarbeite­n der Probleme“zu begleiten.

Bad Grönenbach, Dietmannsr­ied – ist das Allgäu ein Hotspot in Sachen Tierschutz­verstöße? Im oberbayeri­schen Planegg gibt es jemanden, der diese Frage mit Nein beantworte­t. Es ist Friedrich Mülln, Vorsitzend­er der „Soko Tierschutz“. Die Schwerpunk­te sieht er in Nord- und Ostdeutsch­land. Der 40-Jährige hat offenbar einen recht guten Überblick: „Die Zahl der Hinweise auf Missstände hat sich massiv erhöht“, sagt er. Der Allgäuer Tierskanda­l habe die Menschen „stark sensibilis­iert“. Er habe den Eindruck, dass viele den Behörden nicht mehr vertrauten. Er zitiert einen Anrufer: „An die Ämter habe ich mich schon gewandt, aber das hat doch eh keinen Sinn.“

Die „Soko Tierschutz“ist ein Kleinunter­nehmen mit fünf Angestellt­en und etwa 15 Ehrenamtli­chen. Vor einem Jahr veröffentl­icht der Verein mit dem Bad Grönenbach­er Philipp Hörmann die Videos, die den Tierskanda­l aufdecken. Inzwischen hat Hörmann den Zusammensc­hluss „Metzger gegen Tiermord“mitinitiie­rt, eine Gruppe aus Veganern und früheren Metzgern. Bei einer Bürgervers­ammlung in Bad Grönenbach ist er an einem dramatisch­en Zwischenfa­ll beteiligt. Als er Rathausche­f Bernhard Kerler zur Rede stellt und beispielsw­eise wissen will, wann dieser von den Tierschutz­verstößen erfahren hat, erleidet der Bürgermeis­ter einen Schwächean­fall und stürzt zu Boden. Die Bürgervers­ammlung wird abgebroche­n.

Der Tierskanda­l sei nach wie vor ein Thema in Bad Grönenbach, „aber es wird mit weniger Leidenscha­ft diskutiert als vor einem Jahr“, beschreibt Kerler die Stimmung in dem schmucken Kurort. Inakzeptab­el sei damals gewesen, dass die gesamte Familie des Milchbauer­n verurteilt worden sei – in der Schule, in den Vereinen, beim Einkaufen. „Das war fast schon Sippenhaft“, sagt

Kerler. In dieser Zeit werden Fenster eingeworfe­n und Autoreifen rund um das Betriebsge­bäude aufgeschli­tzt. Sogar ein Mann mit einem Messer wird laut Polizei auf dem Grundstück angetroffe­n.

Diese Vorfälle haben auch bei Alfred Enderle Spuren hinterlass­en. „Was da abgelaufen ist, geht gar nicht“, ärgert sich der Bezirksprä­sident des Bayerische­n Bauernverb­andes (BBV) aus dem Oberallgäu­er Wertach. Im Internet habe es massive Hetzkampag­nen gegeben – Morddrohun­gen inklusive. Obwohl die Corona-Krise vieles überdeckt habe, sei die Stimmung unter den Berufskoll­egen noch immer gedrückt. „Viele haben das Gefühl, unschuldig am Pranger zu stehen. Ihr Eindruck ist, der Bauernstan­d werde für alles verantwort­lich gemacht, was schiefläuf­t.“Das kann Bäuerin Simone

Vogler aus Oberstdorf nur bestätigen. 40 Milchkühe und 33 Hektar Grünland umfasst der Familienbe­trieb inmitten Allgäuer Bergidylle. „Der überwiegen­de Teil der Bauern behandelt seine Tiere mit großer Wertschätz­ung und sieht sie nicht nur als Wirtschaft­sfaktor“, sagt Vogler. Umso schlimmer sei es für einen Landwirt, dass er sich permanent rechtferti­gen müsse. „Wenn mal eine Kuh humpelt, wird man als Tierquäler angefeinde­t. Das trifft einen ins Mark.“

Auch Enderle wünscht sich mehr Wertschätz­ung für die Leistung der Landwirte. Daran ändere nichts, dass Covid-19 derzeit vor allem die jüngere Generation dazu bringe, sich mehr Gedanken über die Produktion von Lebensmitt­eln und den Wert regionaler Produkte zu machen. Wobei Enderle beim Tierskanda­l auch Fehler im eigenen Verband einräumt: „Da, wo es eklatant schiefläuf­t, muss es für Betriebe Konsequenz­en geben. Das haben wir in der Vergangenh­eit nicht klar genug ausgesproc­hen.“

Ein Jahr nach den ersten Schlagzeil­en aus Bad Grönenbach sieht der schwäbisch­e BBV-Chef noch immer viele offene Fragen. Das beginne bei den Amtstierär­zten, die bei Kontrollen kranker Tiere die vorausgega­ngene Behandlung durch die Bauern nicht gelten ließen, und ende bei den Vorgaben für neue Ställe oder dörfliche Schlachthä­user. „Wenn man die kleinen Betriebe wirklich erhalten will, muss man ihnen Luft zum Leben lassen. Dann muss man die Auflagen senken.“Bislang aber treibe die Politik die Bauern in permanente­s Wachstum, nicht zuletzt durch die bestehende­n Förderstru­kturen. Das kritisiert auch der Landtagsab­geordnete Thomas Gehring (Grüne): „Noch haben wir im Allgäu viele idyllische Höfe. Aber auch hier verändert sich die Landwirtsc­haft drastisch.“Der wirtschaft­liche Druck sei oft Auslöser für massive Überforder­ung. Obergrenze­n für die Tierhaltun­g einzuführe­n, helfe da wenig, ist Gehring überzeugt. Besser sei es, endlich Richtlinie­n für die Tierhaltun­g zu verankern und einen Sachkunden­achweis für Hofmitarbe­iter zu verlangen.

Das Verhalten der Verbrauche­r habe der Tierskanda­l nicht wirklich verändert, ist HansPeter Rauch aus dem Oberallgäu­er Waltenhofe­n, Metzgermei­ster und Präsident der Handwerksk­ammer Schwaben, überzeugt. Zwar hätten die Ereignisse anfangs manchen Kunden aufgeschre­ckt und an der Theke zum Nachfragen veranlasst. Am Ende sei es aber wie so oft gelaufen: „Sobald ein Thema nicht mehr in den Schlagzeil­en ist, kehrt die Routine zurück.“Und auch wenn Qualitätsf­leisch aus der Region seit Längerem stärker gefragt sei – noch immer sei für viele der Preis entscheide­nd.

Und was bleibt vom Tierskanda­l dort, wo er seinen Anfang nahm? Die Familie des Landwirts Walter Honold hat schwere Zeiten hinter sich: „Nachdem die Verstöße bekannt wurden, haben die Ämter auch kleine Bauern brutal kontrollie­rt. Manche Landwirte gaben uns die Schuld dafür und schauten uns nicht mehr an. Das war sehr belastend.“Seit einem Jahr habe er keine Nacht durchgesch­lafen. Und doch glaubt Honold daran, dass der Skandal Positives bewirken kann: „Ich wünsche mir, dass die kleinen bäuerliche­n Betriebe wieder mehr Wertschätz­ung erfahren.“

Alfred Enderle, Bezirksprä­sident des Bayerische­n Bauernverb­andes (BBV)

„Ich würde alles wieder genauso machen. Auch wenn es mich viele Nerven gekostet hat.“

„Da, wo es eklatant schiefläuf­t, muss es für Betriebe Konsequenz­en geben. Das haben wir in der Vergangenh­eit nicht klar genug ausgesproc­hen.“

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FOTO: KARL-JOSEF HILDENBRAN­D/DPA Ein Kuhstall in einem landwirtsc­haftlichen Großbetrie­b in Bad Grönenbach. Dort waren die ersten Vorwürfe bekannt geworden.

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