Rotkäppchen? Ein Fall fürs Jugendamt!
Natürlich liegt uns nichts ferner als das: nachfolgende – und damit naturgemäß jüngere – Generationen pauschal als Memmen zu verunglimpfen. Aber einer Sache trauern wir im Zuge der um sich greifenden Kuschel-Pädagogik dann doch nach: den authentischen Märchen, mit all dem kindlichen Schrecken, der uns schonungslos aufs Leben vorbereitet hat. Wie sollen junge Menschen heutzutage ohne die drastischen Erzählungen von Drachen oder Hexen auf die unvermeidlichen Begegnungen mit Schwiegermüttern vorbereitet werden?
Irgendwo scheint es jedoch eine geheime Bundesbehörde für amtliche Weicheierei zu geben, die mit gestrenger Hand und unnachgiebigem Eisen alle Textstellen glattbügelt, die unsere Kinder verängstigen könnten. Dementsprechend amputiert wirken Neufassungen klassischer Märchen. Wenn das so weitergeht, muss „Hänsel und Gretel“am Ende ohne Gewalt auskommen. Die Hexe versucht den eingepferchten Hänsel nicht länger zu mästen, sondern füttert ihn mit Bioreiswaffeln aus anthroposophischer Produktion. Und natürlich landet das Mütterchen schlussendlich nicht selbst im glühenden Ofen, sondern die fürsorgliche Gretel legt ihr eine elektrische Wärmedecke über den Schoß.
Interessant auch die Frage, was aus einem bösen Wolf werden soll, der weder ein bis sieben Geißlein fressen darf, von der bettlägerigen Großmutter (Pflegegrad drei) ganz zu schweigen. Und ein kleines Mädchen mit roter Kappe, allein im Wald, ausgestattet mit Rotwein, ist heute kein Fall mehr fürs Märchenbuch, sondern fürs Jugendamt.