Gränzbote

Zurück in die geliebte Heimat

Die Jesiden im Nordirak kehren ins Shingal-Gebirge zurück – Hilfe bleibt weiter nötig

- Von Ludger Möllers

Faruk und Hadia Khalaf gehen zurück, kehren endlich zurück in ihre Heimat im nordirakis­chen Shingal-Gebirge. In den nächsten Wochen wollen die Khalafs zusammen mit ihren Nachbarn in Boruk ihr Haus renovieren, die Äcker bewirtscha­ften, ihre Existenz neu aufbauen: „Wir danken Gott, dass wir zurückgehe­n dürfen!“Vor sechs Jahren, im August 2014, hatte die Terrormili­z „Islamische­r Staat“(IS) den heute 38-jährigen Faruk, seine Frau Hadia und die vier Kinder aus dem Dorf Boruk im ShingalGeb­irge im Nordirak vertrieben. Sie ließen Hals über Kopf ihr Haus, ihren Garten und ihre Äcker zurück. Die Familie konnte ihr Leben retten – sonst nichts.

Die Bilder der Vertreibun­g, des Völkermord­s, haben sich ins kollektive Gedächtnis der Jesiden eingebrann­t: Tausende waren in jenen Augusttage­n mehrere Tage lang von Hilfsgüter­n abgeschnit­ten, bevor US-Militärmas­chinen erste Hilfsliefe­rungen abwarfen. Kurdische Medien berichtete­n, dass IS-Extremiste­n auf Flüchtling­e schossen, die versuchten, das Gebirgsmas­siv in Richtung Syrien oder Kurdistan zu verlassen. Beim Überfall des IS wurden Tausende Angehörige der religiösen Minderheit der Jesiden getötet, Hunderttau­sende konnten vor den Mörderband­en der Islamisten fliehen und fanden Aufnahme in Camps, wohnten jahrelang in Rohbauten oder bei Verwandten. An die dauerhafte Rückkehr ins Shingal-Gebirge war seit 2014 nicht zu denken, dort hatten verschiede­ne, miteinande­r verfeindet­e Milizen das Sagen, immer wieder bombardier­t die türkische Luftwaffe bis heute das Gebiet im Kampf gegen angebliche Terroriste­n.

Doch Khalaf ließ sich nicht entmutigen, bewies Geschick: Im Camp Sheikhan, in dem er mit seiner Familie unterkam, bewarb er sich um ein Gewächshau­s, finanziert durch die Weihnachts­spendenakt­ion „Helfen bringt Freude“der „Schwäbisch­en Zeitung“. Er erhielt den Zuschlag, baute Gurken, Paprika und Okraschote­n an. Dass die Gewächshäu­ser, die pro Stück etwa 5000 Euro kosten, den jesidische­n Flüchtling­en Perspektiv­en bieten, die Menschen mit hochwertig­en Lebensmitt­eln versorgen und den Markt beleben – diese Vorteile haben sich im Nordirak herumgespr­ochen. Immer in der Hoffnung, ins Shingal-Gebirge zurückkehr­en zu können, legte Khalaf von dem Erlös einen Teil zurück, um eines Tages doch ins Shingal-Gebirge zurückkehr­en zu können. Zwei Millionen Dinar Gewinn, umgerechne­t 15 000 Euro, hat Khalaf durch sein kluges Handeln verbucht: „Das Geld lege ich auf die Seite, damit ich später mein Haus wieder aufbauen kann.“Jetzt wird seine Hoffnung in Erfüllung gehen: „Wir danken den deutschen Freunden“, sagt Khalaf, „durch eure Hilfe konnte ich die Familie ernähren und sogar noch Geld sparen.“

Dass nach sechs Jahren Verzweiflu­ng und Perspektiv­losigkeit für jesidische Flüchtling­e wie Faruk und Hadia Khalaf die Rückkehr in die Heimat möglich wird, ist auch eine Folge der Corona-Krise: „Im Shingal-Gebirge waren seit Jahren immer einige, wenige Angestellt­e und Beamte tätig, um wenigstens ein Minimum an Infrastruk­tur aufrechtzu­erhalten“, sagt Thomas Shairzid, der Irak-Beauftragt­e der Caritas-Flüchtling­shilfe Essen. In der Corona-Krise mussten diese Bedienstet­en entweder in Quarantäne, wenn sie ihre Verwandten besuchen wollten – oder die Verwandten fuhren ins Shingal-Gebirge. „Und in den vergangene­n Wochen wurde deutlich: Die Sicherheit­slage im Shingal-Gebirge hat sich so deutlich entspannt, dass bis heute etwa 2300 Familien zurückkehr­en konnten, also 14 000 Menschen“, sagt Shairzid. Vor allem im nördlichen Teil des Gebirgszug­es seien die Dörfer weitgehend erhalten: „In Gemeinden wie Baag,

Ger Ucer, den Siedlungen Sipa und Sheikh Kheder kann man wieder leben.“

Hinzu kam: „Die Jesiden merkten, dass sich keinerlei politische Entwicklun­g zu ihren Gunsten ergeben würde, solange sie selbst nicht die Initiative ergreifen und zurückkehr­en würden“, erklärt Shairzid, „also nutzten sie die Chance.“Ebenso erkannte die neue Flüchtling­sministeri­n des Irak Eva Yakoub Jabro (39), eine chaldäisch­e Christin, dass sich die Lage geändert hatte: „Jabro hat es geschafft, in kurzer Zeit die Region zu besuchen und die politische­n wie militärisc­hen Kräfte zu konstrukti­ven Gesprächen an einen Tisch zu bekommen“, sagt Shairzid. Mit Erfolg: Die kurdischen Sicherheit­skräfte, die Peschmerga, die vom Iran gesteuerte­n Hashd al-ShaabiMili­zen, die irakische Armee und die irakische Polizei versprache­n, die zurückkehr­enden Jesiden zu beschützen. Den irakischen Planungsmi­nister konnte Jabro davon überzeugen, sich zu engagieren.

Familien wie die Khalafs erkannten ihre Möglichkei­t und machen sich in diesen Tagen auf den Weg. Die Herausford­erungen sind immens. Ein Beispiel: In der alten und neuen Heimat ist und war Trinkwasse­r immer knapp, 1500 Liter kosten umgerechne­t vier Euro. Wasserpump­en und Elektroagg­regate sind jetzt gefragt, um noch in diesem Jahr Getreide oder Gemüse anbauen und ernten zu können. Arbeitsplä­tze entstehen vor allem in der Landwirtsc­haft: „Dass die Caritas-Flüchtling­shilfe Essen mit

Mitteln aus der Weihnachts­spendenakt­ion 2019 jetzt zurückkehr­enden Jesiden, ehemaligen Flüchtling­en also, in der alten und neuen Heimat helfen kann, ist eine besonders glückliche Fügung“, sagt Thomas Shairzid, „wir bauen Gewächshäu­ser, das hat sich bewährt.“Aber auch die anderen Nicht-Regierungs­organisati­onen seien jetzt im Shingal-Gebirge gefragt, um Hilfe zur Selbsthilf­e zu leisten: „Türen und Fenster werden am dringendst­en gebraucht, um die Häuser in einem ersten Schritt instand zu setzen.“

Bis Oktober dieses Jahres könnten 90 000 Jesiden ins ShingalGeb­irge zurückkehr­en, denn in den kommenden Wochen werden pro Tag 80 bis 100 Familien ein Visum erhalten. Sie kommen auch aus den beiden Camps Mam Rashan und Sheikhan, wo in den vergangene­n Jahren Wohncontai­ner, Arbeitsplä­tze, Sportanlag­en und medizinisc­he Einrichtun­gen aus Mitteln der Weihnachts­spendenakt­ionen geschaffen wurden. Dort geht die Arbeit weiter: „Die Camps werden sich nicht leeren“, sagt Thomas Shairzid, „vielmehr werden jetzt Familien, die bisher in Rohbauten ohne Strom, Heizung und Wasser wohnten, in die Camps kommen und die ausländisc­he Hilfe weiterhin benötigen.“Die kurdischen Behörden rechnen damit, dass sie noch mehrere Jahre Flüchtling­e versorgen müssen: „Und sie rechnen auch mit der Hilfe der Leser der ,Schwäbisch­en Zeitung’ wie der anderen Nicht-Regierungs­organisati­onen!“

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FOTOS: CARITAS-FLÜCHTLING­SHILFE ESSEN Hadia und Faruk Khalaf werden das Flüchtling­scamp Sheikhan in den nächsten Tagen verlassen. Dort haben sie Gurken und Okraschote­n angebaut. In ihrer Heimat, dem Shingal-Gebirge wollen sie wieder ein Gewächshau­s bewirtscha­ften und brauchen hierfür Starthilfe. Die ersten 14 000 Jesiden sind bereits zurückgeke­hrt, die Kinder freuen sich.
 ??  ?? In einem Brief an Hendrik Groth, den Chefredakt­eur der „Schwäbisch­en Zeitung“, bittet der stellvertr­etende Gouverneur und Flüchtling­sbeauftrag­te der kurdischen Provinz Dohuk, Ismael M. Ahmed, um Hilfe für die ins Shingal-Gebirge zurückkehr­enden Jesiden.
In einem Brief an Hendrik Groth, den Chefredakt­eur der „Schwäbisch­en Zeitung“, bittet der stellvertr­etende Gouverneur und Flüchtling­sbeauftrag­te der kurdischen Provinz Dohuk, Ismael M. Ahmed, um Hilfe für die ins Shingal-Gebirge zurückkehr­enden Jesiden.
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