Gegen Heuchler, Phrasendrescher und Kriegstreiber
Jens Malte Fischers Biografie über Karl Kraus ist eine spannende Lektüre über die jüngere Geschichte
Er kämpfte für die „Trockenlegung des Phrasensumpfes“in Politik und Medien und gegen eine Verrohung der Sprache als Vorstufe zur Gewalt. Der 1936 gestorbene österreichische Autor und Satiriker Karl Kraus („Die letzten Tage der Menschheit“), Herausgeber der legendären Zeitschrift „Die Fackel“, erscheint aktueller denn je. Für den Literaturnobelpreisträger Elias Canetti war Kraus der größte Satiriker deutscher Sprache. Im Verlag Paul Zsolnay ist eine umfangreiche KarlKraus-Biografie von dem Germanisten und Theaterwissenschaftler Jens Malte Fischer erschienen.
Die über 1000 Seiten umfassende Biografie ist eine Fundgrube für jeden Kraus-Fan, ein neues Standardwerk zu Kraus für Literaturwissenschaftler sowieso. Die Biografie macht es aber in ihrer Detailversessenheit den übrigen Lesern nicht gerade leicht durchzuhalten. Daniel Kehlmann spricht in seiner Rezension in der Wochenzeitung „Die Zeit“von den „happy few“, die zu Kraus gefunden haben, weil Kraus „immer ein Schriftsteller für wenige“sein werde. Schade eigentlich.
Der Publizist und frühere Verleger Michael Naumann, der eine Dissertation über Kraus geschrieben hat, nennt die neue Biografie „eine Art Cinemascope-Reise durch die Wiener Jahrhundertwende, auch viel Klatsch dabei“, wie er der Deutschen PresseAgentur (dpa) sagte. Naumann hatte in seiner Amtszeit als Kulturstaatsminister eine Million Mark mobilisiert, um den Park von Schloss Janowitz in Tschechien renovieren zu lassen, wo Kraus im Hause der von ihm verehrten Sidonie Nádherná von Borutin verkehrte, die auch viele andere Berühmtheiten wie Rainer Maria Rilke und Karel Capek in ihrem Salon versammelte.
Die damaligen österreichischen innenpolitischen Verhältnisse und Ereignisse sind zwar für das Verständnis von Werk und Autor durchaus von Bedeutung, aber sicher nicht in dieser weitverzweigten Verästelung, jedenfalls für Leser außerhalb Österreichs. Fischer übertreibt jedenfalls, was wohl seiner eindeutigen, wenn auch nicht durchweg unkritischen Affinität zu Kraus geschuldet ist, wer würde sonst über 1000 Seiten schreiben. Aber der Polemiker und Caféhaus-Literat Kraus erscheint auch bei ihm nicht immer im besten Licht und summa summarum ist seine Biografie eine oft spannende historisch-kulturpolitische Lektüre einer dramatischen Epoche unserer jüngeren Geschichte.
Kraus war in seiner Art tatsächlich fast einzigartig. Er konnte mit seinem schauspielerischen Talent Säle füllen, wohlgemerkt mit Lesungen, die nach heutigen Vorstellungen mehr Performances glichen, noch dazu aus eigenen Werken. An Gegnern hat es Kraus nicht gemangelt, und sein ausgeprägter Hang zur Rechthaberei und zum
Prozessieren (gleichermaßen gegen den Wiener Polizeipräsidenten wie gegen den Berliner „Kritikerpapst“Alfred Kerr) machte ihn vielen Zeitgenossen auch nicht gerade sympathischer. Aber Kraus hatte auch prominente Bewunderer, wie Arnold Schönberg, Theodor Adorno und Sigmund Freud, wie Fischer hervorhebt.
Die „Fackel“hatte zeitweise auch ein Büro in Berlin (im Impressum stand in diesen Jahren „Wien-Berlin“) und als Kraus öffentlich mit dem Gedanken spielte, dauerhaft nach Berlin umzusiedeln, gab es eine Solidaritätsaktion in der Wiener Presse, Kraus unbedingt an der Donau zu halten. Erfolgreich. Doch viele seiner Theaterprojekte und Rundfunkproduktionen fanden in Berlin statt. Aber auch bei seiner Zeitungslektüre in den Wiener Caféhäusern verfolgte Kraus das Geschehen in der deutschen Reichshauptstadt, vor allem die zunehmende Brutalisierung in Nazi-Deutschland.
Dem Wiener Caféhaus-Literaten genügten die genaue Lektüre deutscher Zeitungen und die Berichte von Besuchern aus Deutschland, um sich ein realistisches Bild zu verschaffen. Dazu gehörte auch eine „simple“Ansichtskarte (!) mit einem vor einem Geschäft postierten SA-Mann und den auf die Fensterscheibe geschmierten Worten „Dir Judensau sollen die Hände abfaulen“. Öffentliche Sprache als Signal – Kraus hat das früh genug beobachtet, erkannt und benannt, so auch in seiner schon 1933 geschriebenen, aber erst postum erschienenen „Dritten Walpurgisnacht“mit seiner prophetischen Sicht auf den beginnenden Nazi-Terror.
Seit Ende der 1920er-Jahre galt der Jean-Paul-Verehrer Kraus als Linksradikaler. Die kommunistischen Intellektuellen waren in Wien anders als damals in Berlin nicht „salonfähig“. Dabei waren Kraus revolutionäre Bewegungen aller Art zuwider. Zum Kommunismus sagte er, der Teufel hole seine Praxis, „aber Gott erhalte ihn uns als konstante Drohung“. Zum Beispiel beim Kampf gegen Heuchelei und Korruption in Politik und Gesellschaft. Aber letztendlich resümierte er seinen publizistischen Kampf resignierend mit den Worten: „Es ist alles vergeblich, es sind lauter Irre, das Unvorstellbarste wird noch von der Wirklichkeit überholt.“Das Unvorstellbarste musste Kraus nicht mehr erleben, er starb 1936 in seiner Wohnung.
Nach 1945 erlebte der sprachgewaltige Autor, Satiriker und Zeitkritiker eine erstaunliche Renaissance, jedenfalls zeitweise, wie Fischer hervorhebt. Es gab sogar eine umfangreiche, zwölfbändige Reprint-Ausgabe sämtlicher „Fackel“-Hefte. Kraus fand wieder Bewunderer, auch unter der rebellischen Jugend der 1960erJahre. Manche Literaturkritiker rümpften eher die Nase über den Wiener Autor. Kraus hatte für ähnliche Fälle ein Bonmot parat: „Größere Gegner gesucht.“
Den heutigen Bekanntheitsgrad von Kraus, soweit vorhanden, führt Fischer auf drei Aspekte zurück – das Drama „Die letzten Tage der Menschheit“, die „Dritte Walpurgisnacht“und auf die berühmten Kraus-Aphorismen, die echt oder auch verfälscht wiedergegebenen, von denen manche zum „geflügelten Wort“geworden sind. Zu den berühmtesten „Dauerbrennern“gehört sicherlich „Das Wort Familienbande hat einen Beigeschmack von Wahrheit“(Kraus bat testamentarisch Familienangehörige darum, seiner Beisetzung fernzubleiben).
Jens Malte Fischer, Karl Kraus, Paul Zsolnay Verlag, 1104 Seiten, 45 Euro.