Im Deutschlandtakt über die Alb
Ab Ende 2022 sollen zwischen Ulm und Wendlingen die ICE-Züge mit Tempo 250 fahren – Olaf Drescher ist der Mann, der für die pünktliche Inbetriebnahme sorgen will
Etwas mitleidig schaut Olaf Drescher an diesem verregneten Mittwochmorgen auf die endlose Autokarawane auf der Autobahn 8, die sich den Albaufstieg am Drackensteiner Hang hinaufquält. Immer wieder stockt der Verkehr. Drescher steht seit zwei Wochen an der Spitze des Bahnprojekts Stuttgart–Ulm und verantwortet alle für die Inbetriebnahme des Großprojekts relevanten Bereiche wie Bahntechnik und Rohbau sowie das Pilotprojekt Digitaler Knoten Stuttgart. Heute hat er Journalisten auf die 85 Meter hohe neue Filstalbrücke eingeladen und ist sich sicher: „Viele von den Autofahrern dort unten werden auf die Bahn umsteigen, sobald die Schnellfahrstrecke von Ulm nach Wendlingen fertig ist, mit dem Fahrplanwechsel im Dezember 2022 werden sich hier die Verkehrsflüsse drastisch verändern.“Geplant sei, dass zunächst pro Stunde zwei bis drei Fernverkehrszüge im geplanten „Deutschlandtakt“über die Neubaustrecke führen, auch Regionalzüge könnten die Verbindung nutzen. „Mit der Inbetriebnahme der neuen Hochgeschwindigkeitsstrecke werden Reisende im Fernverkehr rund 15 Minuten Fahrzeit einsparen“, verspricht der 60-Jährige. Dass in 885 Tagen die heutigen Autofahrer statt mit Tempo null auf der Autobahn mit Tempo 250 im ICE unterwegs sein werden, steht für den Ingenieur fest: „Wir schaffen das.“Die Biografie Dreschers spricht dafür, dass der Mann Wort hält: Er hat bereits die Schnellbahnstrecken von Berlin nach Hamburg und von Berlin nach München in Betrieb genommen und etliche Widerstände überwunden
Rückblende ins Jahr 1999. Die damalige rot-grüne Bundesregierung stoppt das halb fertige „Verkehrsprojekt Deutsche Einheit Nummer 8“, das letzte große Infrastrukturprojekt aus der Zeit nach der Wiedervereinigung. Der Lückenschluss der Verkehrswege über die ehemalige deutsch-deutsche Grenze, die Bahnverbindung von Berlin nach München, soll nicht gebaut werden. In der Hauptstadt heißt es: Zu teuer, zu anspruchsvoll, Nahverkehr ist wichtiger. Im Schwarzbuch des Bundes der Steuerzahler heißen die halb fertigen Bauwerke entlang der Trasse bald nur noch „So-da-Brücken“: Sie stehen in der Landschaft herum, sind nur so da.
Mit dem Regierungswechsel im Jahr 2005 und der ersten schwarzroten Koalition unter Kanzlerin Angela Merkel (CDU) kommt Bewegung in das tot geglaubte Projekt. Zwar sind die bereits verlegten Gleise zwischenzeitlich verrostet, an manchen Stellen hat sich die Natur den Raum zwischen den Schienen zurückerobert. Doch mit Olaf Drescher übernimmt ein Mann die Verantwortung, der vorher den Ausbau der Strecke Hamburg–Berlin für eine Streckengeschwindigkeit von 230 Kilometern pro Stunde geleitet hat, im Amtsdeutsch der Bahn „VDE 2“. Und er hat vor, sich nicht abschrecken zu lassen.
Drescher berichtet: „Ich bin in Dresden groß geworden, bin mit der Eisenbahn aufgewachsen, meine Eltern haben beide bei der damaligen Reichsbahn der DDR gearbeitet.“Auch Drescher war klar, dass er eine Laufbahn bei der Eisenbahn einschlagen würde. Also ließ er sich zum Diplomingenieur für Eisenbahnsicherungstechnik ausbilden und kam zur Hauptverwaltung der Deutschen Reichsbahn: „Da habe ich Mangelverwaltung gelernt“, erinnert er sich heute. Dem Magazin „Stern“sagt er 2017: „Man musste sich immer etwas organisieren. Wenn wir keine Signaltechnik aus heimischer Produktion bekamen, weil mal wieder für den Export nach Syrien produziert wurde, haben wir russische Technik besorgt und angepasst.“
Zurück nach Thüringen ins Jahr 2007. Dort herrscht zwar keine Mangelwirtschaft, aber Drescher stößt mit seinem Team auf mannigfache Hindernisse: Mal entdecken die Bauarbeiter eine bis dato unbekannte Tropfsteinhöhle, kilometerlang, die längste Thüringens, mit einem unterirdischen See. Dann kommen Biotope in die Quere. Schließlich versperrt ein ganzer Fluss den Weg: „Den Main haben wir einfach umgeleitet, sonst hätte die Strecke da nicht hingepasst.“Ende Dezember 2017 geht die Strecke von Berlin nach München in Betrieb. Drescher findet im Bahnprojekt Stuttgart–Ulm eine neue Aufgabe, wird zunächst Chef der Technik, Anfang Juli 2020 Gesamtverantwortlicher.
Nach Angaben der Bahn sind die ersten Testfahrten für Anfang 2022 geplant. Bislang sind 90 Prozent des Rohbaus der Neubaustrecke Wendlingen–Ulm fertiggestellt. Auf 37 von 60 Kilometern der Strecke sind die Gleise verlegt, 800 Oberleitungsmasten stehen. Insgesamt sind bis zu 6000 Mitarbeiter tätig. Vor allem der Ausbau der Signal- und Sicherungstechnik wird mit Hochdruck vorangetrieben: Für den gelernten Diplomingenieur für Eisenbahnsicherungstechnik ist der Einbau des europäischen Zug-Beeinflussungs-Systems ETCS digital eine persönliche Herausforderung: „Die Formsignale, die wir nur Fliegenklatsche nannten, Lichtsignale und Warnzeichen haben ausgedient. Fahrbefehle kommen per Mobilfunk zum Lokführer“, sagt Drescher, „das hat das Projekt noch komplexer gemacht.“
Doch er bleibt nicht beim Einzelprojekt: „Aus vielen abgetrennten, kleinen Projekten müssen wir jetzt ein integriertes Projekt schaffen, den Blick aller auf die Inbetriebnahme der Schnellfahrstrecke lenken.“Seine Aufgabe sieht er darin, alle Beteiligten von der Bahn bis zum Bürgermeister, von Umweltschützern bis zu Unfallforschern immer wieder an einen Tisch zu bekommen. In Thüringen hat Drescher mit dieser „Umarmungsstrategie“Erfolg gehabt: Er ließ Wanderwege für baustellengeplagte Gemeinden mit Blick aufs Gleis anlegen, hielt Bürgerveranstaltungen ab. Auch an der Filstalbrücke ist an einem Beispiel zu sehen, dass die Deutsche Bahn die Anliegergemeinden in die Planung einbezieht: Zwei Feuerwehrautos der Gemeinde Mühlhausen im Täle, zum Teil finanziert durch die Bahn, stehen bereits jetzt im direkt anschließenden Boßlertunnel. „Das spart im Einsatzfall auf der Baustelle wertvolle Minuten“, sagt Feuerwehrkommandant Steven Farion aus Mühlhausen im Täle.
Seine Durchsetzungsfähigkeit und die diplomatischen Fähigkeiten wird Drescher im Bahnprojekt Stuttgart–Ulm gut einsetzen können. Denn nach jetzigem Stand ist die Neubaustrecke Ulm–Stuttgart zwar Ende 2022 fertig, wird aber ab Wendlingen auf die alte Strecke geführt. Entscheidend für den angestrebten Zeitgewinn von 30 Minuten zwischen Ulm und Stuttgart ist, wann die Strecke an den künftigen Tiefbahnhof S 21 angebunden werden kann. Bislang geht man von frühestens 2025 aus. Dann könnten Fahrgäste auch am neuen Fernbahnhof am Flughafen aussteigen. Vorher kämen sie wie bisher nicht am Flughafen vorbei. Fahrgäste würden am Hauptbahnhof in die Stadtbahn umsteigen oder in die S-Bahn, die zum Interimsbahnhof am Flughafen fährt.
Drescher muss bis 2025 viele Gespräche führen, mit Verantwortlichen
aus dem Fernverkehr, dem für den Regionalverkehr verantwortlichen Landesverkehrsministerium, von den S-Bahnen und den Nahverkehrsbetrieben. Aber die Mühe werde sich lohnen, ist sich Drescher sicher. Die stark gestiegenen Fahrgastzahlen auf der Strecke zwischen München und Berlin geben ihm recht: 2018, im ersten Jahr nach der Eröffnung, nutzten 46 Prozent aller Reisenden die Bahn, 30 Prozent das Flugzeug und 24 Prozent das Auto oder den Bus. Vor der Eröffnung der Schnellfahrstrecke hatte das Flugzeug mit 48 Prozent Anteil vor Auto/Bus mit 29 Prozent und der Bahn mit 23 Prozent gelegen.
Übrigens: Vom Filstal und der Brücke werden die Reisenden nicht viel sehen: In sieben Sekunden werden die Züge über die knapp 500 Meter lange, dritthöchste Eisenbahnbrücke Deutschlands rauschen.