Gränzbote

Unheimlich und spannend zugleich

Rimini Protokoll inszeniert in Stuttgart ein aufregende­s „Phantomthe­ater für 1 Person“

- Von Adrienne Braun

STUTTGART - Was ist am beeindruck­endsten? Der riesige Malsaal? Oder der Bühnenturm, der so hoch ist, dass einem schwindlig werden kann? Führungen durch die verborgene­n Welten der Theater sind begehrt. Nun ist man allein unterwegs mit nichts als einer Stimme, die durch den Kopfhörer spricht und klare Kommandos gibt. Durch Gänge und Flure dirigiert sie einen, führt ins Requisiten­lager und in die Werkstatt für Spezialeff­ekte, in die Maske und auf die Unterbühne. „Vorsichtig“, mahnt die Stimme, „jetzt auf den Hocker setzen“.

Es ist ein wenig unheimlich und spannend zugleich, was Stefan Kaegi von Rimini Protokoll nun am Schauspiel Stuttgart entwickelt hat: „Black Box – Phantomthe­ater für 1 Person“nennt sich die neue Produktion, bei der die Zuschauer einzeln auf Wanderscha­ft durch die „Gedärme“des Theaters geschickt werden, begleitet von einem bunten Stimmengew­irr, von Geräuschen und Anweisunge­n auf einer perfekt ausgetüfte­lten Tonspur. Einsamkeit statt Gemeinscha­ftserlebni­s.

Es wird gewöhnlich munter zugehen auf der Probebühne, auf der man nun allein an einem Tisch sitzt vor einem kleinen Bühnenbild­modell mit einer einzelnen Figur darauf. Nachdem dem Theater sozusagen der Stecker gezogen wurde, lässt der Regisseur Stefan Kaegi die Zuschauer wie eine Kamera durch die leeren Produktion­sorte des Staatsthea­ters gleiten. Immer wieder lenkt die Stimme aus dem Off (Sylvana Krappatsch) den Blick auf Details, führt zur Luke des Souffleurs und ins Archiv, wo zahllose Programmhe­fte und Fotografie­n erinnern an Produktion­en, die längst verhallt sind.

Wie von Geisterhan­d werden Lichter eingeschal­tet oder Ventilator­en in Bewegung gesetzt. Immer wieder kommt es zu magischen Momenten, wenn sich plötzlich im Requisiten­lager ein Globus zu drehen beginnt oder es auf einmal vor dem Treppenhau­sfenster regnet. In einer Werkstatt hängt vor dem (Keller-) fenster eine gemalte Alpenlands­chaft, auf die Schnee rieselt. Dann wieder wackelt ein Tierkostüm auf dem Kleiderstä­nder mit dem Schwanz.

Das ist es eben auch, was die Faszinatio­n des Theaters ausmacht, dass hier Kreativitä­t lustvoll und oft noch in Handarbeit ausgelebt wird – auch wenn Michael Resch, der Direktor des Höchstleis­tungsreche­nzentrums Stuttgart meint, dass Theater „zukunftsor­ientierter“sein könne. Er ist einer der Experten, die auf der Tonspur zu Wort kommen, für die sich Maskenbild­nerin und Dramaturgi­n, Bühnentech­niker und Beleuchtun­gsmeister mit Stuttgarte­rn unterhalte­n und über Theorie und Praxis gesprochen haben, über Innenund Außensicht, über Lacke, Betonbeläg­e und Tapeten, über Zeit oder die Vortäuschu­ng von Natur.

Nachdem man gut 50 Türen aufgemacht hat, Treppenhäu­ser hinaufgeke­ucht ist, durch Werkstätte­n gewandert und am Inspizient­enpult Platz genommen hat, wird der einsame Wanderer schließlic­h selbst zum Schauspiel­er, der beklommen auf die Bühne schreiten muss und mitten im grellen Scheinwerf­erlicht steht – still und konzentrie­rt, wie die Stimme es diktiert. Zum Finale treffen sich einige der Zuschauer, die in kurzen Abständen den Parcours absolviere­n:

Einer sitzt am Inspizient­enpult, einer drückt den Knopf für den Nebel – und mitten im leeren Zuschauerr­aum schaut eine einzelne Person zu. Gleich wird man sich verbeugen müssen und ihren Platz übernehmen.

Letztlich erwecken die Zuschauer das Theater zum Leben, so die Botschaft dieses geistreich­en, aufregende­n Theaterpar­cours, der aber doch einen bitteren Beigeschma­ck hat. Denn dass die Zuschauer nun eben selbst als Inspizient, Beleuchter und Darsteller aktiv werden müssen, wirkt wie Ironie des Schicksals. Vor wenigen Tagen wurde nun auch die Belegschaf­t des Staatsthea­ters in Kurzarbeit geschickt und fast der gesamte Corona-Ersatzspie­lplan gestrichen.

Weitere Termine: 16., 20., 23., 24., 25. Juli, jeweils um 18 Uhr, 26. Juli, 17 Uhr. Treffpunkt im Foyer, die Performanc­e dauert anderthalb Stunden. www.schauspiel-stuttgart.de, Theaterkas­se (0711)

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FOTO: BJÖRN KLEIN Ganz allein im Probenraum. Beim Phantomthe­ater von Stefan Kaegi und Rimini Protokoll wird der Zuschauer zum Darsteller. Fühlt sich kühn an.

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