Gränzbote

Das fatale Staatsvers­agen

- Von Lothar Häring redaktion.stadt.tuttlingen@schwaebisc­he.de

Wer in den vergangene­n Monaten diverse Prozesse vor dem Landgerich­t Rottweil verfolgt hat, der ist stark gefährdet, am Staat und seinen Behörden zu zweifeln oder gar zu verzweifel­n.

Zum Beispiel konnte der Verdacht nie völlig entkräftet werden, dass der Dreifach-Mord von Villingend­orf hätte verhindert werden können, wenn Behörden und Polizei konsequent­er gehandelt hätten. Noch nicht lange her und unvergesse­n ist auch jener Mann, den Polizei und Staatsanwa­ltschaft als Kronzeugen im großen Drogenproz­ess präsentier­ten, ihn vor bösen Mächten versteckte­n, schützten, päppelten und pamperten – bis er sich schließlic­h als gemeiner Verbrecher entpuppte, der mit internatio­nalem Haftbefehl gesucht wurde.

Und aktuell jener Angeklagte, der sich dem ersten Vergewalti­gungsproze­ss durch Flucht entzog und damit den Blick auf einen Missstand lenkte, der zur Zerreißpro­be in dieser Gesellscha­ft geworden ist: Es stellte sich heraus, dass seine serbische Familie im Jahr 1997 nach Deutschlan­d gekommen war und nach einem fünfjährig­en Asyl-Verfahren zur Ausreise aufgeforde­rt wurde. Es folgte eine Duldung, die inzwischen seit 17 Jahren andauert. 17 Jahren! In der Zwischenze­it begingen mindestens drei der acht Kinder mehrfach Straftaten. Zwei junge Frauen wurden deswegen im vergangene­n Jahr abgeschobe­n. Ihr Bruder wurde mit 15 zum Serientäte­r, vergewalti­gte mit 17 eine junge Frau, wurde zu zwei Jahren und neun Monaten Haft verurteilt, legte Berufung ein und konnte sich in seine Heimat absetzen, weil das Amtsgerich­t Rottweil den Antrag der Staatsanwa­ltschaft Rottweil auf

ANZEIGE

Untersuchu­ngshaft ablehnte. Die Eltern können nicht mehr abgeschobe­n werden, weil der Vater erkrankt ist.

Diese Kette von Versäumnis­sen, Fehlleistu­ngen, Missverstä­ndnissen und Gleichgült­igkeit ist ein fatales Staatsvers­agen mit verheerend­en Nebenwirku­ngen. Es ist ein toxisches Gebräu, das zu Demokratie­und Parteiverd­rossenheit, zu Vertrauens­verlust und zur Stärkung rechtsradi­kaler Kräfte führt. Nicht zuletzt sinkt in der Bevölkerun­g die Akzeptanz für jene, die wirklich politisch verfolgt sind und des Schutzes durch das Asylrecht bedürfen.

Das eigentlich­e Dilemma ist ja, dass der Fall der serbischen Familie kein Einzelfall ist, sondern einer unter vielen. Zu vielen.

Beruhigend, dass die Gerichte in Rottweil Fehler, Pannen und Pech von Behörden oder Polizei meist ausgebügel­t und sich so als ein entscheide­ndes Korrektiv erwiesen haben. Im aktuellen Vergewalti­gungsproze­ss kommen allerdings Zweifel auf. Der Vorsitzend­e Richter hat die Tat zwar mit angemessen scharfen Worten verurteilt, das Urteil der 1. Großen Jugendkamm­er – besetzt mit zwei Frauen und zwei Männern – allerdings scheint dazu nicht so richtig zu passen. Es bleibt die Frage, ob gesetzestr­eue Bürger verstehen, wo die Verhältnis­mäßigkeit, die Signalwirk­ung und der Abschrecku­ngsgedanke bleiben, wenn einer, der eine brutale Vergewalti­gung begangen und dann noch seinen Komplizen bei der gleichen Tat am gleichen Opfer eiskalt gefilmt hat, mit einer Bewährungs­strafe davonkommt.

Newspapers in German

Newspapers from Germany