Superfood gibt es auch am heimischen Waldrand
Kerstin Ginzel öffnet bei Kräuterwanderung die Welt der Kräuter und ihre Wirkungen
Von Regina Braungart
SPAICHINGEN - Weiße Blüten, gelbe Blüten oder auch nur einfach jede Menge grüne Blätter: Was im eigenen Garten vermutlich unter „verwildert“abgetan würde und beim Wandern nicht als Diversität wahrgenommen wird, ist ein Schatz. Diese Erkenntnis haben die 13 Teilnehmer der VHSKräuterwanderung von Kerstin Ginzel an jenem Samstagnachmittag mit nach Hause genommen. Und niemand wird mehr beim Spazierengehen ohne den genauen Blick auf Blattformen, Stängelrippen, Blütenstände, Behaarungen, Blätteranordnungen und vieles mehr umherstreifen.
Was eine Wanderung zwar durchaus ein paar Stunden verlängern kann, aber sich anfühlt, als ob man langsam lesen lernen würde.
Kräuter sind offenbar immer noch eine Frauendomäne, auch wenn zumindest in einem Fall das kleine Vorwissen vom Vater erlernt wurde. Es sind zwölf Frauen jeglichen Alters und ein Mann, die den Erzählungen der Spaichingerin lauschen und die vorgestellten Pflanzen mit allen Sinnen erfahren: Wie duftet die Mädesüß?, deren Namen „Geißbart“sich beim Anschauen sofort erschließt: weiß und zottelig sind die Blüten. „Nach Bittermandel“analysiert eine Teilnehmerin. Richtig. Drum wird die Blüte auch für Pralinen und Nachtische verwendet. Mädesüß kann aber mehr, sie ist wie pflanzliches Aspirin: entzündungshemmend, schweißtreibend, schmerzlindernd – denn sie enthält Salicin.
Kerstin Ginzel hat eine besondere Beziehung zu jedem einzelnen Kräutlein, kennt die lateinischen und die Volksnamen, weiß, wo die Pflanze wächst, wann welcher Teil die höchste Heilkraft hat und welche Zubereitungsart sie braucht. Gänseblümchen, Löwenzahn, Labkraut, Baldrian, Sirup
– alle haben unterschiedliche Wirkungen, mal wird die Wurzel verwendet, mal die Blüten, mal die Blätter als Tee, Tinktur, Salbe, frisch, im Salat oder anders.
Aber Kerstin Ginzel weiß auch, was zu tun ist, wenn einen unterwegs ein Insekt sticht, eine fiese Blase stört, Schmerzen auftreten oder Sonnenbrand nicht bemerkt wurde und Abhilfe nötig ist. Sie rupft ein paar Spitzwegerichblätter aus, macht einen
Knoten hinein und knetet das Päckchen. Zum Erstaunens der Teilnehmerinnen – ein paar Mütter kennen den Trick schon – hat sie fast tropfnasse Hände vom heilenden Pflanzensaft. Blutstillend und wundheilend ist auch der Breitwegerich, nur der kann im Gegensatz zum Spitzwegerich den trockenen Husten nicht stillen.
Dass Kräuter auch etwas mit der geistigen Welt zu tun haben, streift Ginzel an der einen oder anderen Stelle.
Aber nicht, indem sie irgendwelche bewusstseinserweiternden Kräutlein zeigt, sondern, indem sie mit erwähnt, wenn ein Kraut auch zum Räuchern benutzt wurde und wird, wie der Beifuß (Artemisia), als „Hexenkraut“galt und anderes. Dämonen vertreibend (also antidepressiv wie das Johanniskraut) oder wühlmausvertreibend (wie der Steinklee), es scheint wirklich gegen alles ein Kraut gewachsen zu sein.
Odermennig gilt als Sängerkraut, weil er belastete Stimmbänder beruhigt, Girsch/Geißfuß lindert Rheuma und Hexenschuss, echtes Labkraut bringt die Lymphe zum Fließen, Wiesen-Ackerschachtelhalm stärkt Haut und Haar, aber sein Wald-Geschwister ist giftig, Angelika stärkt die Nerven, wilde Möhre bringt alles ins Gleichgewicht, Gänsefingerkraut hilft gegen Menstruationsbeschwerden. Das und vieles mehr erfahren die Teilnehmer des dreistündigen Spaziergangs im Bereich Tanne.
Und zwischendrin lenkt Kerstin Ginzel die Aufmerksamkeit auf offenbare Tausendsassa-Pflanzen. Eine davon gibt es an Rainen in Hülle und Fülle und ist überhaupt nicht beliebt: die Brennnessel. Im Frühjahr als Salat eine Mineral- und Vitaminbombe (Trick gegen die Brennhaare: Zerbrechen mit dem Wellholz oder einfach wie Spinat kochen, auch in Gnocchi, Lasagne und anderem. Manche Teilnehmerin hat diese Pflanze schon für ihre Küche entdeckt. Aber die Nessel kann noch mehr, etwa als Tee, sie regt die Nieren an, entschlackt. Und wenn man sich wie früher mit einem Büschel an einer schmerzenden Stelle schlägt, brennt das wie Feuer - das Blut schießt ein und der Schmerz lässt nach.
Im Herbst kann man die Samen der Brennnessel pflücken, ein „heimisches Superfood,“sagt Ginzel. Ein Esslöffel pro Tag, etwas angemörsert liefert jede Menge Eiweiß, Linolsäure, Carotinoide und anderes. Den Pferden mischte man das ins Futter, damit das Fell schön glänzte.
Aber einen zugeschriebenen Nebeneffekt mochten mittelalterliche Klostervorsteher gleich gar nicht: Brennesselsamen waren dort verboten, wie Kerstin Ginzel erzählt. Sie steigerten nämlich angeblich die Libido. Und die hat im Kloster nichts verloren.
Noch ein Superkraut: Johanniskraut, „das wirkt wie Breitbandmedizin“. Doch es gibt echtes und nicht wirksames. Wie sie zu unterscheiden sind, das wissen die Teilnehmer nach der Wanderung jetzt auch.