150 Jahre danach
Vor 150 Jahren hat der deutsch-französische Krieg begonnen – Er war Basis für die weitere europäische Geschichte
Europa und der deutschfranzösische Krieg
Versailles am 18. Januar 1871. Die bei Paris gelegene Stadt ist Hauptquartier der preußisch-deutschen Truppen. Sie belagern die französische Metropole. Geschützdonner hallt aus der Ferne herüber. Doch das wirkliche Geschehen des Tages spielt sich nicht an der Front ab, sondern im Spiegelsaal des berühmten örtlichen Königsschlosses: „Seine Kaiserliche und Königliche Majestät, Kaiser Wilhelm lebe hoch! hoch! hoch!“, ruft Großherzog Friedrich von Baden. Die weiteren anwesenden Fürsten stimmen ein, ebenso die vielen Militärs und ein kleines Grüpplein Zivilisten. Damit ist die Kaiserproklamation vollbracht, der preußische König wird Herrscher eines nun vor aller Welt gegründeten neuen deutschen Reiches.
Der Tag von Versailles kann als entscheidendes Ereignis des deutsch-französischen Krieges 1870/71 bezeichnet werden – mit Auswirkungen bis in die Gegenwart. Weshalb Historiker bedauern, dass jener von deutscher Seite gewonnene Waffengang heutzutage aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden ist. Die Weltkriege im 20. Jahrhundert überdecken alles. Ohne 1870/71 sind aber auch diese Gemetzel nicht ergründbar.
Seinen unmittelbaren Anfang nimmt die Geschichte am 19. Juli 1870, einem Tag, der sich nun zum 150. Mal jährt. In Berlin trifft Frankreichs Kriegserklärung ein. Die Heere beider Seiten marschieren an den Grenzen am Rhein, der Pfalz und der Saar auf. Eine der ersten feindlichen Begegnungen machen einen 32-jährigen Offizier vom Bodensee zum gefeierten Kriegshelden: Ferdinand von Zeppelin, ansonsten nur durch seine Luftschiffe bekannt. Am 24. Juli bricht er mit vier anderen Offizieren und acht Dragonern hoch zu Ross zu einer Fernpatrouille hinter die französischen Linien auf. Einen Tag später stellen gegnerische Reiter den Trupp. Zeppelin alleine gelingt die Flucht. „Während die Wachen nicht hersahen, übersprang ich den Wiesenstreifen an dem Waldsaum und warf mich im niederen Getreide zur Erde“, beschreibt er später ein Detail seines Entkommens.
Ihm gelingt es, die eigenen Linien zu erreichen. Sein Bericht enthüllt die Aufstellung der grenznahen französischen Truppen. Zurück bleiben zwei Gefallene: ein Deutscher und ein Franzose, die ersten von mehr als 200 000 Toten.
Dass es so weit kommen konnte, hat mit zweierlei Bewegungen zu tun: dem Bestreben, aus den in zig Staaten gegliederten deutschen Landen ein einig Reich zu bilden – und dem Nationalismus des französischen Kaiserreichs unter Napoleon III., seinerzeit die führende Macht in Europa. Die Signale aus Paris lauten: Jeder Versuch einer deutschen Einigung wird als Kriegsgrund betrachtet. Deutscherseits ist der preußische Kanzler Otto von Bismarck die zentrale Figur. Er treibt die Einigung trotz Kriegsgefahr voran, ganz nach seinem berühmten Zitat: „ ... Nicht durch Reden oder Majoritätsbeschlüsse werden die großen Fragen der Zeit entschieden, ... sondern durch Eisen und Blut.“Sein Ziel ist ein Deutschland
unter preußischer Führung mit Ausschluss Österreichs. 1866 wird das Habsburger Reich in einem kurzen Krieg geschlagen. Das bis dahin existierende lockere Staatenbündnis Deutscher Bund ist am Ende. Österreich scheidet aus Deutschland aus. Bismarck erreicht gleichzeitig für Preußen eine immense Machtsteigerung. Sie wird durch den von ihm initiierten Norddeutschen Bund untermauert.
Frankreich reagiert betroffen. Napoleon III. herrscht als populistischer Volkstribun. Zur Festigung seiner Herrschaft braucht er außenpolitische Erfolge. Der Monarch hätte gerne als Ausgleich für Preußens Machtzuwuchs fremde Gebiete zugesprochen bekommen – etwa Luxemburg. Bismarck vereitelt dieses Ansinnen, in dem er die Franzosen diplomatisch hinhält. In Paris ist man empört. Der Ruf nach Rache für den preußischen Sieg über Österreich wird laut – obwohl Frankreich an diesem Krieg nicht beteiligt war. Indes spinnt Bismarck weiter seine Fäden. Er weiß das preußische Militär durch Generalstabschef Helmuth von Moltke gut organisiert. Es ist eine scharfe Waffe. Mit den drei noch unabhängigen süddeutschen Staaten Bayern, Württemberg und Baden schließt der Kanzler geheime Beistandsverträge. Im Frühjahr 1870 kommt ihm dann entgegen, dass Spanien nach einem neuen König Ausschau hält. Die Suche erreicht Sigmaringen – und damit das dortige katholische Adelshaus Hohenzollern, eine Nebenlinie der in Berlin herrschenden Hohenzollern-Dynastie.
Der Ausersehene ist Leopold Prinz von Hohenzollern-Sigmaringen. Bismarck treibt dessen Kandidatur voran. Der Gedanke dabei: Ein Hohenzoller in Madrid und ein Hohenzoller in Berlin würden französische Einkreisungsängste beflügeln. Dies bedeutet wiederum: Napoleon III. kann den Prinzen nie als spanischen König dulden. Frankreich muss also irgendwie reagieren, kalkuliert Bismarck. Dies geschieht. In Berlin trifft die französische Forderung ein, dass die Spanienkandidatur zu unterbleiben habe. Das Hohenzollernoberhaupt, Preußens König Wilhelm I., der spätere Kaiser, gesteht dies zu. Womit Paris ein diplomatischer Sieg gelungen ist.
Die Franzosen wollen aber mehr, einen Kotau der Preußen. Wilhelm solle versichern, nie wieder würde sich ein Hohenzoller um Spaniens Thron bewerben. Im Kurort Bad Ems bedrängt der französische Botschafter am 13. Juli 1870 den preußischen Monarchen. Der will keinen Verzicht für alle Ewigkeit und macht dies dem Botschafter deutlich. Im patriotisch aufgeputschten Paris fühlt man sich beleidigt. Die Mobilisierung der Armee wird angeordnet. Zwischenzeitlich schickt Wilhelm seinem Kanzler Bismarck eine Depesche zu den Ereignissen in Bad Ems. Dieser streicht sämtliche Diplomatie aus dem Schreiben heraus. Es klingt nun harsch, siehe etwa den Schlusssatz: „Seine Maj. der König hat es darauf abgelehnt, den Franz. Botschafter nochmals zu empfangen, und demselben durch den Adjutanten vom Dienst sagen lassen, dass S. Majestät dem Botschafter nichts weiter mitzuteilen habe.“
So lässt der Kanzler den Text veröffentlichen – mit mehreren Folgen. In Deutschland lodern nun wegen des französischen Drängens ebenso die Nationalgefühle hoch. Dieses Drängen macht wiederum Frankreich für die neutrale Staatenwelt zum Aggressor. In Paris steigert die Depesche gleichzeitig den Blutdruck noch mehr. Napoleon III. lässt am 19. Juli die Kriegserklärung abschicken.
Letztlich ist Frankreich damit in Bismarcks Falle gelaufen, wird zum isolierten Kriegsschuldigen, dem zudem ein geschlossenes Deutschland gegenübersteht – nicht nur Preußen und die norddeutschen Staaten, sondern auch die Preußenskeptischen süddeutschen Länder. Frankreich ficht dies erst einmal kaum an. „Tod den Preußen“und „auf nach Berlin“skandieren die Pariser. „Ohne diesen Krieg wird Ihr Sohn nie herrschen“, drängt der französische Marschall Patrice de Mac-Mahon Kaiser Napoleon III. zum Dreinschlagen. Man fühlt sich gerüstet. Frankreich verfügt über eine Berufsarmee, die alle Welt den deutschen Wehrpflichtigen-Truppen für überlegen hält.
Rasch kommt es zur Nagelprobe. Am 4. August, zehn Tag nach Zeppelins Erkundungsritt, schlägt die deutsche Seite zu. In mehreren Grenzschlachten kämpft sie die Franzosen nieder. Diesen gelingt fast nichts mehr. Sie erleiden Niederlage an Niederlage. Am 1. September 1870 geht das französische Kaiserreich in der Schlacht von Sedan unter. Napoleon III. begibt sich in preußische Gefangenschaft. In Paris etabliert sich die Dritte Republik. Sie führt den Krieg weiter, erfolglos. Die Deutschen stoßen auf Paris vor. Ab dem 19. September ist die Metropole von ihnen eingeschlossen. Ein zäher Stellungskrieg beginnt. Die Belagerung dauert bis zum 31. Januar 1871, dem Tag, an welchem Frankreich um Waffenstillstand bittet.
Monate später wird in Frankfurt Frieden geschlossen. Frankreich verliert seine deutsch-sprachigen Grenzgebiete im Elsass und in Lothringen inklusive der Festung Metz. Sie hatten einst zum alten, 1806 untergegangenen deutschen Reich gehört, weshalb alle VaterländischGesinnten diese Annektion fordern.
Deutschlands Militär und die Politiker im Süden des neuen Reichs denken aber noch an etwas anderes: Durch die Annektion der Grenzgebiete lässt sich die Verteidigungslinie bei einem weiteren Krieg nach vorne verlegen. Dass mit einer französischen Revanche gerechnet werden kann, ist allen klar. Immerhin hat die selbst ernannte Grande Nation gerade ihre europäische Führungsrolle verloren. Ein bleibender Schmerz, gesteigert durch den Verlust des Grenzgebiets.
Für den Moment überwiegt in Frankreich jedoch die Fassungslosigkeit über die Niederlage. Die Gründe, weshalb die vermeintlich so starke Militärmacht so rasch auf die Verliererstraße geraten ist, hat jüngst der Militärhistoriker KlausJürgen Bremm in seinem Werk „70/71“erneut untersucht. Er nennt die Artillerie. Die Deutschen sind mit wesentlich besseren Geschützen ausgerüstet. Während der Grenzschlachten haben sie zudem mehr Soldaten als ihre Gegner zur Verfügung. Und die Deutschen, betont Bremm, seien dem Kanonendonner entgegen marschiert, hätten ihre kämpfenden Truppen verstärkt. Bei den Franzosen habe dies meist nicht funktioniert. Weniger ausschlaggebend sei die deutsche Feldherrnkunst gewesen, verweist Bremm. Schon Bismarck hat angesichts hoher Verluste Führungsmängel angeführt. „Nur Faust, kein Kopf, und dennoch siegen wir“, schreibt der Kanzler im August 1870 nach verlustreichen Gefechten.
Als Politiker obliegt Bismarck aber nicht die Truppenführung. Während die Schlachten toben, arbeitet er daran, dass es überhaupt zu einer Reichsgründung kommen kann. Besonders das Königreich Bayern muss noch fürs neue Reich gewonnen werden. Mit Bestechung des Wittelsbacher Ludwig II. erreicht Bismarck das Ziel. Sein Staat steht, ein „saturierter“Staat ohne weitere Gebietsansprüche, wie Bismarck betont. Dass er einst höchst aggressiv werden und epochale Verbrechen begehen wird, kann niemand ahnen. Ebenso wenig, wie ersichtlich ist, dass ein Nachfolgestaat dieses Reiches die Deutschen zu zuvor nie gekanntem Wohlstand und Frieden führt: die heutige Bundesrepublik.