Beim Gipfel droht Streit um Hilfspaket
EU könnte Gelder an Rechtstaatlichkeit knüpfen und riskiert damit eine Blockade
BRÜSSEL/BERLIN (dpa) - Im „Herzen der europäischen Demokratie“wird Bundeskanzlerin Angela Merkel grundsätzlich: „Menschen- und Bürgerrechte sind das wertvollste Gut, das wir in Europa haben“, sagte Merkel vor Kurzem in Brüssel. Jedes Land in Europa erinnere sich anders an seine Kämpfe für Freiheit und Rechtsstaat; „zugleich eint uns genau diese Errungenschaft der Grundrechte“.
Wie groß diese Gemeinsamkeiten wirklich sind, dürfte sich ab Freitag beim EU-Gipfel zeigen. Dann verhandelt Merkel mit den anderen Staatsund Regierungschefs über den 750 Milliarden Euro schweren Aufbauplan nach der Corona-Krise und den siebenjährigen Haushaltsplan ab 2021. Darin soll erstmals eine Koppelung festgelegt werden: EU-Gelder, so der Vorschlag, könnten bei Verstößen gegen Grundwerte und Rechtsstaatlichkeit gekürzt werden. Es wäre ein scharfes Schwert im Kampf für die von Merkel beschworenen Werte. Aber kommt es dazu?
Unter den EU-Ländern ist das heftig umstritten. Im Visier fühlen sich vor allem Länder wie Polen und Ungarn, die seit Jahren mit der EU-Kommission im Clinch über Fragen der Rechtsstaatlichkeit liegen. Sie versuchen, die neue Rechtsstaatsklausel im Haushalt zu stoppen. „Ich bin hoch alarmiert“, sagt die SPD-Europaabgeordnete Katarina Barley. „Wenn jetzt kein wirksamer Mechanismus kommt, wäre das wirklich ein Drama.“
Vorgeschlagen hat die EU-Kommission den neuen Mechanismus schon 2018. Hintergrund ist, dass Länder wie Polen und Ungarn zwar gerne EU-Subventionen in Milliardenhöhe
kassieren – sich nach Ansicht von Kritikern aber immer weiter von den gemeinsamen Werten entfernen. Die Vorwürfe sind vielfältig: Minderheiten werden angegriffen, das Recht auf Asyl eingeschränkt, Justiz und Pressefreiheit gestutzt.
Der Europäische Gerichtshof schritt schon mehrfach gegen beide Länder ein. Zudem laufen politische Verfahren wegen der Verletzung von EU-Grundwerten, die allerdings kaum vorankommen. Barley sieht ähnliche Tendenzen in Bulgarien, der Slowakei oder in Kroatien. Die EUKommission will deshalb dort ansetzen, wo es wehtut: beim Geld. Sie hat vorgeschlagen, dass sie künftig vorgibt, ob EU-Zahlungen an bestimmte Länder reduziert oder gestrichen werden. Aufgehalten werden könnten Kürzungen demnach nur mit einer sogenannten umgekehrten qualifizierten Mehrheit der EU-Staaten. Demnach müssten 15 Länder mit 65 Prozent der EU-Bevölkerung den Vorschlag der EU-Kommission ablehnen, sonst gilt er als beschlossen. Im EU-Parlament stößt der Vorschlag auf großes Wohlwollen. „Polen
und Ungarn kriegt man nur durch die finanziellen Dinge“, sagt etwa Moritz Körner von der FDP.
Doch die Verwässerung hat längst begonnen. Bereits im Februar – noch vor der heftigen Corona-Krise – schlug EU-Ratschef Charles Michel einen Kompromiss vor, der den Mechanismus zurechtstutzt. Demnach müssten die EU-Staaten Vorschlägen der EU-Kommission zur Kürzung von EU-Geld künftig mit qualifizierter Mehrheit zustimmen. Die Hürde wäre ungleich höher als im Kommissionsvorschlag. Vergangene Woche erneuerte Michel den Vorschlag – und machte ihn noch komplizierter. Zusätzlich soll es einen jährlichen Rechtsstaatdialog der EU-Staaten geben, an dem auch der Europäische Rechnungshof beteiligt sein soll. „Damit würden wir sehenden Auges auf das nächste unwirksame Instrument zusteuern“, sagt Barley über Michels Vorschlag.
Theoretisch könnte das Europaparlament eine Einigung der EUStaaten zwar blockieren. FDP-Mann Körner sieht die Parlamentarier jedoch in einer ungünstigen Position. Wegen des Rechtsstaats das komplette Corona-Aufbauprogramm zu blockieren, sei schwer vermittelbar. Länder wie Ungarn versuchen alles, den Rechtsstaat-Mechanismus so wirkungslos zu machen. Orban geht auch Michels Vorschlag zu weit. Jeder Versuch, die Frage der Rechtsstaatlichkeit mit den EU-Finanzen zu verknüpfen, werde „unweigerlich zu einer politischen Auseinandersetzung führen“, warnte er. „Wir können unser Veto dagegen einlegen.“Damit würde Orban das gesamte 1,8 Billionen Euro schwere EU-Finanzpaket einschließlich des Corona-Aufbaufonds blockieren.