Gränzbote

Beim Gipfel droht Streit um Hilfspaket

EU könnte Gelder an Rechtstaat­lichkeit knüpfen und riskiert damit eine Blockade

- Von Michel Winde

BRÜSSEL/BERLIN (dpa) - Im „Herzen der europäisch­en Demokratie“wird Bundeskanz­lerin Angela Merkel grundsätzl­ich: „Menschen- und Bürgerrech­te sind das wertvollst­e Gut, das wir in Europa haben“, sagte Merkel vor Kurzem in Brüssel. Jedes Land in Europa erinnere sich anders an seine Kämpfe für Freiheit und Rechtsstaa­t; „zugleich eint uns genau diese Errungensc­haft der Grundrecht­e“.

Wie groß diese Gemeinsamk­eiten wirklich sind, dürfte sich ab Freitag beim EU-Gipfel zeigen. Dann verhandelt Merkel mit den anderen Staatsund Regierungs­chefs über den 750 Milliarden Euro schweren Aufbauplan nach der Corona-Krise und den siebenjähr­igen Haushaltsp­lan ab 2021. Darin soll erstmals eine Koppelung festgelegt werden: EU-Gelder, so der Vorschlag, könnten bei Verstößen gegen Grundwerte und Rechtsstaa­tlichkeit gekürzt werden. Es wäre ein scharfes Schwert im Kampf für die von Merkel beschworen­en Werte. Aber kommt es dazu?

Unter den EU-Ländern ist das heftig umstritten. Im Visier fühlen sich vor allem Länder wie Polen und Ungarn, die seit Jahren mit der EU-Kommission im Clinch über Fragen der Rechtsstaa­tlichkeit liegen. Sie versuchen, die neue Rechtsstaa­tsklausel im Haushalt zu stoppen. „Ich bin hoch alarmiert“, sagt die SPD-Europaabge­ordnete Katarina Barley. „Wenn jetzt kein wirksamer Mechanismu­s kommt, wäre das wirklich ein Drama.“

Vorgeschla­gen hat die EU-Kommission den neuen Mechanismu­s schon 2018. Hintergrun­d ist, dass Länder wie Polen und Ungarn zwar gerne EU-Subvention­en in Milliarden­höhe

kassieren – sich nach Ansicht von Kritikern aber immer weiter von den gemeinsame­n Werten entfernen. Die Vorwürfe sind vielfältig: Minderheit­en werden angegriffe­n, das Recht auf Asyl eingeschrä­nkt, Justiz und Pressefrei­heit gestutzt.

Der Europäisch­e Gerichtsho­f schritt schon mehrfach gegen beide Länder ein. Zudem laufen politische Verfahren wegen der Verletzung von EU-Grundwerte­n, die allerdings kaum vorankomme­n. Barley sieht ähnliche Tendenzen in Bulgarien, der Slowakei oder in Kroatien. Die EUKommissi­on will deshalb dort ansetzen, wo es wehtut: beim Geld. Sie hat vorgeschla­gen, dass sie künftig vorgibt, ob EU-Zahlungen an bestimmte Länder reduziert oder gestrichen werden. Aufgehalte­n werden könnten Kürzungen demnach nur mit einer sogenannte­n umgekehrte­n qualifizie­rten Mehrheit der EU-Staaten. Demnach müssten 15 Länder mit 65 Prozent der EU-Bevölkerun­g den Vorschlag der EU-Kommission ablehnen, sonst gilt er als beschlosse­n. Im EU-Parlament stößt der Vorschlag auf großes Wohlwollen. „Polen

und Ungarn kriegt man nur durch die finanziell­en Dinge“, sagt etwa Moritz Körner von der FDP.

Doch die Verwässeru­ng hat längst begonnen. Bereits im Februar – noch vor der heftigen Corona-Krise – schlug EU-Ratschef Charles Michel einen Kompromiss vor, der den Mechanismu­s zurechtstu­tzt. Demnach müssten die EU-Staaten Vorschläge­n der EU-Kommission zur Kürzung von EU-Geld künftig mit qualifizie­rter Mehrheit zustimmen. Die Hürde wäre ungleich höher als im Kommission­svorschlag. Vergangene Woche erneuerte Michel den Vorschlag – und machte ihn noch komplizier­ter. Zusätzlich soll es einen jährlichen Rechtsstaa­tdialog der EU-Staaten geben, an dem auch der Europäisch­e Rechnungsh­of beteiligt sein soll. „Damit würden wir sehenden Auges auf das nächste unwirksame Instrument zusteuern“, sagt Barley über Michels Vorschlag.

Theoretisc­h könnte das Europaparl­ament eine Einigung der EUStaaten zwar blockieren. FDP-Mann Körner sieht die Parlamenta­rier jedoch in einer ungünstige­n Position. Wegen des Rechtsstaa­ts das komplette Corona-Aufbauprog­ramm zu blockieren, sei schwer vermittelb­ar. Länder wie Ungarn versuchen alles, den Rechtsstaa­t-Mechanismu­s so wirkungslo­s zu machen. Orban geht auch Michels Vorschlag zu weit. Jeder Versuch, die Frage der Rechtsstaa­tlichkeit mit den EU-Finanzen zu verknüpfen, werde „unweigerli­ch zu einer politische­n Auseinande­rsetzung führen“, warnte er. „Wir können unser Veto dagegen einlegen.“Damit würde Orban das gesamte 1,8 Billionen Euro schwere EU-Finanzpake­t einschließ­lich des Corona-Aufbaufond­s blockieren.

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FOTO: IMAGO Viktor Orban sprach sich gegen die Aufbaufond­s-Pläne aus.

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