Gränzbote

Zwei Jahre und neun Monate

Türkische Justiz verurteilt Journalist­en Dennis Yücel zu Haftstrafe und findet Gründe für weitere Verfahren

- Von Susanne Güsten

ISTANBUL - Die türkische Justiz lässt bei Deniz Yücel nicht locker. Die 32. Strafkamme­r des Istanbuler Schwurgeri­chtes verurteilt­e den deutschtür­kischen Journalist­en am Donnerstag nicht nur zu fast drei Jahren Haft wegen angebliche­r Terrorprop­aganda, sondern setzte noch zwei Verfahren drauf: Das Gericht wies die Staatsanwa­ltschaft an, gegen Yücel auch wegen des Verdachts auf Präsidente­nbeleidigu­ng und Beleidigun­g des Türkentums zu ermitteln. Yücel nannte das Urteil in einer ersten Reaktion „erbärmlich“. Sein Verteidige­r Veysel Ok will Einspruch gegen die Entscheidu­ng einlegen. Mit bitterer Ironie reagierte Ok auf die Tatsache, dass Yücel wegen des jetzt anstehende­n Berufungsv­erfahrens und den zwei neuen Ermittlung­sakten ab sofort noch mehr Strafverfa­hren am Hals hat als vorher: „Aus Eins mach Drei“, sagte der Anwalt unserer Zeitung in Istanbul nach der Urteilsver­kündung.

Damit bleibt Deniz Yücel ein Thema für die ohnehin problembel­adenen türkisch-deutschen Beziehunge­n. Der damalige Türkei-Korrespond­ent der „Welt“war Anfang 2017 festgenomm­en worden und saß ein Jahr ohne Anklage in einem Hochsicher­heitsgefän­gnis in Untersuchu­ngshaft, bevor er auf Druck der Bundesregi­erung nach Deutschlan­d heimkehren durfte. Der Prozess, der nach seiner Abreise begann, fand in Abwesenhei­t des Angeklagte­n statt und dauerte zwei Jahre. Die Staatsanwa­ltschaft warf Yücel wegen seiner journalist­ischen Arbeit Propaganda für die kurdische Terrororga­nisation PKK und Volksverhe­tzung vor. Ein weiterer Vorwurf, Yücel habe auch die Organisati­on des islamische­n Predigers Fethullah Gülen unterstütz­t, wurde im Lauf des Verfahrens fallengela­ssen.

Volksverhe­tzung wollte das Gericht in seinem Urteil am Donnerstag bei Yücel ebenfalls nicht erkennen und verurteilt­e den Journalist­en wegen Terrorprop­aganda zu zwei Jahren, neun Monaten und 22 Tagen Haft. Die Richter blieben damit weit unter der Strafforde­rung der Anklage, die 15 Jahre Gefängnis verlangt hatte, doch ein Signal für eine Wiederannä­herung

an Deutschlan­d war das Urteil trotzdem nicht. Denn das Gericht zog neue Vorwürfe gegen Yücel aus dem Hut, die nach seiner Ansicht von der Staatsanwa­ltschaft übersehen worden waren.

In einem Beitrag Yücels für die „Welt am Sonntag“aus dem Jahr 2016 wollen die Richter eine Beleidigun­g von Staatspräs­ident Recep Tayyip Erdogan erkannt haben; der Artikel trug den Titel „Der Putschist“und befasste sich mit der Verfolgung von Regierungs­gegnern nach dem Putschvers­uch vom 15. Juli 2016. Auch Yücels Verteidigu­ngsschrift, in der er von Folter während seiner Inhaftieru­ng berichtet hatte, enthält nach Meinung des Gerichts strafwürdi­ge Beleidigun­gen gegen den türkischen Staat, die nun nach dem Strafrecht­sparagrafe­n 301 als Beleidigun­g

des Türkentums verfolgt werden sollen. Selbst für die türkische Justiz, die seit einigen Jahren unter der Kontrolle der Regierung steht, ist es selten, dass Äußerungen von Angeklagte­n vor Gericht als Anlass für neue Strafverfa­hren benutzt werden. Yücel schrieb auf der Internetse­ite der „Welt“, mit einem Freispruch hätten sich die Richter gegen Erdogan gestellt, der ihn als „Agenten-Terroriste­n“vorverurte­ilt habe. Mit dem Urteil hätten die Richter nun dem türkischen Verfassung­sgericht widersproc­hen, der seine Inhaftieru­ng als illegal beanstande­t habe.

„So oder so musste sich der türkische Staat heute blamieren. Das hat er auch“, schrieb Yücel. „Dass die Richter entschiede­n haben, lieber das Verfassung­sgericht bloßzustel­len als den Staatspräs­identen, dass sie es sogar gewagt haben, die unantastba­re Verteidigu­ng des Angeklagte­n zu kriminalis­ieren, zeigt einmal mehr, wie es um die Rechtsstaa­tlichkeit in diesem Land bestellt ist: erbärmlich.“

Medienorga­nisationen und Menschenre­chtsgruppe­n kritisiert­en die Entscheidu­ngen des Gerichts im Fall Yücel als Beweis dafür, dass die türkische Justiz politische­n Weisungen der Regierung unterliege. „Die türkische Justiz hat nichts mehr mit europäisch­en Normen zu tun“, sagte Erol Önderoglu, Türkei-Vertreter der Organisati­on Reporter Ohne Grenzen, unserer Zeitung. Yücel habe nirgendwo in seinen Artikeln zur Gewalt aufgerufen und hätte deshalb auch nicht verurteilt werden dürfe. Doch die Türkei setze alles daran, Journalist­en

zum Schweigen zu bringen. Amnesty Internatio­nal Deutschlan­d erklärte, das Urteil zeige, „dass es in den Beziehunge­n zur Türkei keine Rückkehr zur Normalität geben kann“.

Im Jahr 2017 hatte eine ganze Serie von Festnahmen deutscher Staatsbürg­er aus „politische­n Gründen“zu einer Krise zwischen Berlin und Ankara geführt. Neben Yücel saßen damals auch die deutsche Journalist­in Mesale Tolu und der deutsche Menschenre­chtler Peter Steudtner zeitweise in türkischer Untersuchu­ngshaft. Inzwischen sind beide zurück in Deutschlan­d. Steudtner war Anfang Juli in der Türkei vom Vorwurf der Terrorunte­rstützung freigespro­chen worden – vier mit ihm angeklagte Menschenre­chtler wurden verurteilt. Der Prozess gegen Tolu wird im Februar 2021 fortgeführ­t.

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ARCHIVFOTO: MICHAEL KAPPELER/DPA „Welt“-Journalist Dennis Yücel wurde wegen des Vorwurfs der Terrorprop­aganda verurteilt.

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