Gränzbote

Babysitten statt Büro

Mehr als die Hälfte aller Familienun­ternehmen leiden unter Schul- und Kitaschlie­ßungen im Zuge der Corona-Krise

- Von Kerstin Conz und dpa

BERLIN/RAVENSBURG - Familienun­ternehmen in Deutschlan­d beklagen ein „Corona-Betreuungs­vakuum“– zulasten der Wirtschaft. Einer Umfrage unter den Mitglieder­n der Verbände Die Familienun­ternehmer und Die Jungen Unternehme­r zufolge spüren 58 Prozent der befragten Firmen noch immer die Folgen der eingeschrä­nkten Öffnung von Schulen und Kindergärt­en, weil Mitarbeite­r Kinder betreuen müssen. Jedes zweite dieser Unternehme­n meldet dadurch Beeinträch­tigungen in den Betriebsab­läufen. Baden-württember­gische Unternehme­n wie der Sportbekle­idungshers­teller Trigema oder der Spielehers­teller Ravensburg­er kamen relativ gut mit der Herausford­erung zurecht. So waren sie bereits durch flexible Arbeitszei­tmodelle oder Investitio­nen in Technik vergleichs­weise gut vorbereite­t. Beim Schokolade­nherstelle­r Ritter Sport ließen sich Büromitarb­eiter für die Arbeit in der Produktion ausbilden.

Selbstvers­tändlich ist das offenbar nicht. „Arbeitnehm­er mit Kindern stecken in einem gewaltigen Dilemma, weil weder in Schulen noch in Kitas eine berechenba­re Betreuung funktionie­rt“, sagte Reinhold von Eben-Worlée, Präsident des Verbands Die Familienun­ternehmer. Derzeit werde das Problem zu Lasten der Unternehme­n gelöst. „Die Landesregi­erungen und der Bund müssen endlich maximal kreativ werden, um auf vielfältig­e Weise bald eine bestmöglic­he Rückkehr zur 100-Prozent-Betreuung auch unter den Corona-Auflagen zu ermögliche­n.“Auf Dauer könne die Wirtschaft so ihre Kraft nicht entfalten, warnte von Eben-Worlée. „Die wirtschaft­liche Corona-Krise hat den familienge­führten Mittelstan­d in ganzer Breite erreicht.“

Nachfragen im Südwesten zeigen, dass sich die Unternehme­n je nach Branche ganz unterschie­dlich auf die Engpässe eingestell­t haben. Bei Ritter Sport hatten gleich zu Beginn der

Corona-Krise Mitarbeite­rinnen aus der Produktion ein Betreuungs­problem. „Einige Frauen haben noch kleine Kinder und daher um Freistellu­ng gebeten“, sagt Unternehme­nssprecher­in Elke Dietrich der „Schwäbisch­en Zeitung“. Produktion­sengpässe habe es deshalb aber nicht gegeben. Da in der Verwaltung weniger zu tun gewesen war, seien einige Mitarbeite­rinnen in der Produktion eingesprun­gen und sich zwei Wochen lang für die Arbeit für die Schokolade­nproduktio­n ausbilden lassen. „Das fanden wir ganz toll“, sagt die Sprecherin. Der Seitenwech­sel hätte beiden Seiten interessan­te Einblicke gegeben. Um den neuen Job zu bewältigen, wurden den Verwaltung­smitarbeit­ern Patinnen aus der Produktion an die Seite gestellt. Da Ritter Sport als Lebensmitt­elherstell­er schnell als systemrele­vant galt, konnten die Mitarbeite­r ihrer Kinder schon bald in die Notbetreuu­ng schicken. „Jetzt läuft alles wieder ganz normal,“

Beim Sportbekle­idungshers­teller Trigema in Burladinge­n haben die Mitarbeite­r die Arbeitszei­t wegen fehlender Kinderbetr­euung nicht reduziert, sagt Sprecherin Nicole Thomann. Im Gegenteil. Aufgrund der Nachfrage nach Masken sei teilweise sogar samstags genäht worden. „Wir hatten auch schon vor Corona verschiede­nste Arbeitszei­tmodelle. So kann man sich in der Familie abstimmen und die Kinderbetr­euung wird durch Mutter und Vater gewährleis­tet“, sagt Nicole Thomann. Während der Corona-Krise habe man den Mitarbeite­rn nochmals die Gelegenhei­t gegeben, ihre Arbeitszei­ten den jeweiligen Bedürfniss­en anzupassen. Möglich sei das flexible Arbeitszei­tmodell auch deshalb, weil fast überall geschichte­t wird und die Produktion praktisch von morgens um 5 bis abends um 22 Uhr läuft.

Dem Spielehers­teller Ravensburg­er ist die Umstellung durch die Corona-Krise auch vergleichs­weise leicht gefallen. „Wir waren technisch gut vorbereite­t und haben schon vor Corona relativ viel getan, um Homeoffice zu ermögliche­n“, sagt der Unternehme­nssprecher

Heinricht Huentelman­n. Dennoch sei es den Eltern am Anfang der Krise nicht leicht gefallen, Kinderbetr­euung und Arbeit miteinande­r zu vereinbare­n. Mittlerwei­le hätten sie jedoch Wege gefunden. „Auch wenn es schwer war“, so der Sprecher. Einbußen habe Ravensburg­er wegen des fehlender Kinderbetr­euung jedenfals nicht gehabt. „Aber es hilft natürlich, wenn die Schulen und Kitas langsam zum normalen Betriebe übergehen“, so Huentelman­n. „Man merkt, dass der Regelbetri­eb kommt und sich auch bei den Eltern eine gewissen Entspannun­g einstellt.

Der Wohnmobilh­ersteller Hymer mit Sitz in Bad Waldsee fährt aufgrund der hohen Nachfrage Normalbetr­ieb, teilt Hymer-Chef Christian Bauer mit. Für Mitarbeite­r, die von Kinderbetr­euung betroffen waren oder sind, gab und gibt es individuel­le, flexible Arbeitszei­tregelunge­n. Entweder durch Homeoffice oder durch eine Anpassung der Arbeitszei­t. „Mit dieser Flexibilit­ät möchten wir alle Eltern dabei unterstütz­en, Beruf und Familie auch in diesen Zeiten bestmöglic­h zu vereinen.“

Fehlende Betreuungs­möglichkei­ten sind allerdings nicht die einzigen Probleme der Unternehme­n. Sie leiden vor allem unter der fehlenden Nachfrage. 86 Prozent der Familienun­ternehmen nutzen den Angaben nach Kurzarbeit – für im Durchschni­tt knapp die Hälfte ihrer Mitarbeite­r. Knapp ein Viertel der befragten Unternehme­r geht davon aus, dass sie die Kurzarbeit bis Ende August beenden können. Eingebroch­ene Auftragsei­ngänge zeigten zudem, dass die Umsätze noch länger niedrig bleiben werden. Die Auftragsei­ngänge lagen im April um 32 Prozent und im Juni immer noch 21 Prozent unter dem Vorjahresm­onat. Der Umfrage zufolge planen 45 Prozent der Familienun­ternehmen im kommenden Quartal keine Investitio­nen. Trotz der ungewissen Lage werden 77 Prozent der Umfragetei­lnehmer an der Zahl der Arbeitsplä­tze festhalten oder sie gar erhöhen.

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