Babysitten statt Büro
Mehr als die Hälfte aller Familienunternehmen leiden unter Schul- und Kitaschließungen im Zuge der Corona-Krise
BERLIN/RAVENSBURG - Familienunternehmen in Deutschland beklagen ein „Corona-Betreuungsvakuum“– zulasten der Wirtschaft. Einer Umfrage unter den Mitgliedern der Verbände Die Familienunternehmer und Die Jungen Unternehmer zufolge spüren 58 Prozent der befragten Firmen noch immer die Folgen der eingeschränkten Öffnung von Schulen und Kindergärten, weil Mitarbeiter Kinder betreuen müssen. Jedes zweite dieser Unternehmen meldet dadurch Beeinträchtigungen in den Betriebsabläufen. Baden-württembergische Unternehmen wie der Sportbekleidungshersteller Trigema oder der Spielehersteller Ravensburger kamen relativ gut mit der Herausforderung zurecht. So waren sie bereits durch flexible Arbeitszeitmodelle oder Investitionen in Technik vergleichsweise gut vorbereitet. Beim Schokoladenhersteller Ritter Sport ließen sich Büromitarbeiter für die Arbeit in der Produktion ausbilden.
Selbstverständlich ist das offenbar nicht. „Arbeitnehmer mit Kindern stecken in einem gewaltigen Dilemma, weil weder in Schulen noch in Kitas eine berechenbare Betreuung funktioniert“, sagte Reinhold von Eben-Worlée, Präsident des Verbands Die Familienunternehmer. Derzeit werde das Problem zu Lasten der Unternehmen gelöst. „Die Landesregierungen und der Bund müssen endlich maximal kreativ werden, um auf vielfältige Weise bald eine bestmögliche Rückkehr zur 100-Prozent-Betreuung auch unter den Corona-Auflagen zu ermöglichen.“Auf Dauer könne die Wirtschaft so ihre Kraft nicht entfalten, warnte von Eben-Worlée. „Die wirtschaftliche Corona-Krise hat den familiengeführten Mittelstand in ganzer Breite erreicht.“
Nachfragen im Südwesten zeigen, dass sich die Unternehmen je nach Branche ganz unterschiedlich auf die Engpässe eingestellt haben. Bei Ritter Sport hatten gleich zu Beginn der
Corona-Krise Mitarbeiterinnen aus der Produktion ein Betreuungsproblem. „Einige Frauen haben noch kleine Kinder und daher um Freistellung gebeten“, sagt Unternehmenssprecherin Elke Dietrich der „Schwäbischen Zeitung“. Produktionsengpässe habe es deshalb aber nicht gegeben. Da in der Verwaltung weniger zu tun gewesen war, seien einige Mitarbeiterinnen in der Produktion eingesprungen und sich zwei Wochen lang für die Arbeit für die Schokoladenproduktion ausbilden lassen. „Das fanden wir ganz toll“, sagt die Sprecherin. Der Seitenwechsel hätte beiden Seiten interessante Einblicke gegeben. Um den neuen Job zu bewältigen, wurden den Verwaltungsmitarbeitern Patinnen aus der Produktion an die Seite gestellt. Da Ritter Sport als Lebensmittelhersteller schnell als systemrelevant galt, konnten die Mitarbeiter ihrer Kinder schon bald in die Notbetreuung schicken. „Jetzt läuft alles wieder ganz normal,“
Beim Sportbekleidungshersteller Trigema in Burladingen haben die Mitarbeiter die Arbeitszeit wegen fehlender Kinderbetreuung nicht reduziert, sagt Sprecherin Nicole Thomann. Im Gegenteil. Aufgrund der Nachfrage nach Masken sei teilweise sogar samstags genäht worden. „Wir hatten auch schon vor Corona verschiedenste Arbeitszeitmodelle. So kann man sich in der Familie abstimmen und die Kinderbetreuung wird durch Mutter und Vater gewährleistet“, sagt Nicole Thomann. Während der Corona-Krise habe man den Mitarbeitern nochmals die Gelegenheit gegeben, ihre Arbeitszeiten den jeweiligen Bedürfnissen anzupassen. Möglich sei das flexible Arbeitszeitmodell auch deshalb, weil fast überall geschichtet wird und die Produktion praktisch von morgens um 5 bis abends um 22 Uhr läuft.
Dem Spielehersteller Ravensburger ist die Umstellung durch die Corona-Krise auch vergleichsweise leicht gefallen. „Wir waren technisch gut vorbereitet und haben schon vor Corona relativ viel getan, um Homeoffice zu ermöglichen“, sagt der Unternehmenssprecher
Heinricht Huentelmann. Dennoch sei es den Eltern am Anfang der Krise nicht leicht gefallen, Kinderbetreuung und Arbeit miteinander zu vereinbaren. Mittlerweile hätten sie jedoch Wege gefunden. „Auch wenn es schwer war“, so der Sprecher. Einbußen habe Ravensburger wegen des fehlender Kinderbetreuung jedenfals nicht gehabt. „Aber es hilft natürlich, wenn die Schulen und Kitas langsam zum normalen Betriebe übergehen“, so Huentelmann. „Man merkt, dass der Regelbetrieb kommt und sich auch bei den Eltern eine gewissen Entspannung einstellt.
Der Wohnmobilhersteller Hymer mit Sitz in Bad Waldsee fährt aufgrund der hohen Nachfrage Normalbetrieb, teilt Hymer-Chef Christian Bauer mit. Für Mitarbeiter, die von Kinderbetreuung betroffen waren oder sind, gab und gibt es individuelle, flexible Arbeitszeitregelungen. Entweder durch Homeoffice oder durch eine Anpassung der Arbeitszeit. „Mit dieser Flexibilität möchten wir alle Eltern dabei unterstützen, Beruf und Familie auch in diesen Zeiten bestmöglich zu vereinen.“
Fehlende Betreuungsmöglichkeiten sind allerdings nicht die einzigen Probleme der Unternehmen. Sie leiden vor allem unter der fehlenden Nachfrage. 86 Prozent der Familienunternehmen nutzen den Angaben nach Kurzarbeit – für im Durchschnitt knapp die Hälfte ihrer Mitarbeiter. Knapp ein Viertel der befragten Unternehmer geht davon aus, dass sie die Kurzarbeit bis Ende August beenden können. Eingebrochene Auftragseingänge zeigten zudem, dass die Umsätze noch länger niedrig bleiben werden. Die Auftragseingänge lagen im April um 32 Prozent und im Juni immer noch 21 Prozent unter dem Vorjahresmonat. Der Umfrage zufolge planen 45 Prozent der Familienunternehmen im kommenden Quartal keine Investitionen. Trotz der ungewissen Lage werden 77 Prozent der Umfrageteilnehmer an der Zahl der Arbeitsplätze festhalten oder sie gar erhöhen.