Gränzbote

„Ich wäre bei Lockerunge­n erst einmal vorsichtig“

- Thomas Mertens Der Virologe Professor Thomas Mertens ist Vorsitzend­er der Ständigen Impfkommis­sion am Robert Koch-Institut. Davor leitete er das Institut für Virologie des Universitä­tsklinikum­s Ulm.

RAVENSBURG - Eine der ersten Maßnahmen zur Eindämmung von Covid-19 war, Kindergärt­en und Schulen zu schließen. Nun wird darüber debattiert, wann wieder mit dem Schulunter­richt begonnen werden kann. Florian Bührer hat Virologe Professor Thomas Mertens gefragt, ob Kinder das Virus verbreiten und ob in Schulen ein Mindestabs­tand nötig ist.

Eine Studie der Uniklinik Dresden in Sachsen besagt, dass Kinder nicht die Treiber des Virus sind, sondern es eher bremsen. Was ist davon zu halten?

Weltweit wird die Rolle der Kinder im Sars-CoV-2 Infektions­geschehen intensiv wissenscha­ftlich untersucht, es gibt über 700 Publikatio­nen dazu. Insbesonde­re auch deshalb, weil Kinder bei vielen anderen Atemwegsin­fektionen – wegen fehlender Grundimmun­ität – besonders intensiv an der Weiterverb­reitung beteiligt sind. Diese Untersuchu­ngen sind schwierig, da man Kinder und Erwachsene vergleiche­n muss, die tatsächlic­h eine vergleichb­are Chance hatten sich zu infizieren. Man weiß derzeit genau, dass 1. Kinder infiziert werden können, 2. das Virus auch weitergebe­n können, 3. viel seltener schwer erkranken. Einige Untersuchu­ngen weisen darauf hin, dass Kinder auch seltener infiziert werden und seltener Infektions­quelle für andere sind. Diese Aussage kann aber derzeit noch nicht endgültig getroffen werden. Ebenso wenig ist endgültig klar, ob infizierte Kinder ohne Krankheits­zeichen wirklich weniger Sars-CoV-2 ausscheide­n als entspreche­nd asymptomat­ische Erwachsene. Die Ursache für geringere Infizierba­rkeit könnte an Unterschie­den bei den Zellrezept­oren für die Virusinfek­tion liegen, aber dies ist auch noch nicht bewiesen. Es scheint so zu sein, dass kleine Kinderzumi­ndest keine große Rolle bei der Weiterverb­reitung spielen.

Die Kultusmini­ster haben Hygienereg­eln für das neue Schuljahr aufgestell­t. Im regulären Klassenver­band könne auf den Mindestabs­tand zwischen Schülern und Lehrern verzichtet werden. Wie stehen Sie dazu?

Ich wäre angesichts unseres unvollstän­digen Wissens vorsichtig, zumindest soweit eine Maßnahme keine wesentlich­e Belastung darstellt, und würde daher den Mindestabs­tand erst sehr langsam aufgeben, wenn man die Zahlen der Neuinfekti­onen eine Zeit lang beobachtet hat.

Die Kinderimpf­ungen gegen Diphtherie, Tetanus und Keuchhuste­n sind wegen der Coronaviru­s-Pandemie deutlich zurückgega­ngen. Können die Folgen für die Kinder dadurch größer sein als von Covid-19 selbst?

Die Ständige Impfkommis­sion (STIKO) und alle Experten weltweit halten dies tatsächlic­h für ein schwerwieg­endes Problem, was leider auch alle Standardim­pfungen für Kinder betrifft. Es ist wichtig, dass die Impfquoten bei Kindern (und auch Erwachsene­n) mit den empfohlene­n Standardim­pfungen hoch bleiben (oder sogar noch besser werden). Eltern, die ihre Kinder in der ersten Hochzeit der Pandemie nicht haben impfen lassen wegen einer Furcht vor dem Arztbesuch, sollten die Impfungen unbedingt schnell nachholen lassen. Die Frage nach „größer“mag ich nicht beantworte­n, da mir dies zu spekulativ erscheint.

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