„Ich wäre bei Lockerungen erst einmal vorsichtig“
RAVENSBURG - Eine der ersten Maßnahmen zur Eindämmung von Covid-19 war, Kindergärten und Schulen zu schließen. Nun wird darüber debattiert, wann wieder mit dem Schulunterricht begonnen werden kann. Florian Bührer hat Virologe Professor Thomas Mertens gefragt, ob Kinder das Virus verbreiten und ob in Schulen ein Mindestabstand nötig ist.
Eine Studie der Uniklinik Dresden in Sachsen besagt, dass Kinder nicht die Treiber des Virus sind, sondern es eher bremsen. Was ist davon zu halten?
Weltweit wird die Rolle der Kinder im Sars-CoV-2 Infektionsgeschehen intensiv wissenschaftlich untersucht, es gibt über 700 Publikationen dazu. Insbesondere auch deshalb, weil Kinder bei vielen anderen Atemwegsinfektionen – wegen fehlender Grundimmunität – besonders intensiv an der Weiterverbreitung beteiligt sind. Diese Untersuchungen sind schwierig, da man Kinder und Erwachsene vergleichen muss, die tatsächlich eine vergleichbare Chance hatten sich zu infizieren. Man weiß derzeit genau, dass 1. Kinder infiziert werden können, 2. das Virus auch weitergeben können, 3. viel seltener schwer erkranken. Einige Untersuchungen weisen darauf hin, dass Kinder auch seltener infiziert werden und seltener Infektionsquelle für andere sind. Diese Aussage kann aber derzeit noch nicht endgültig getroffen werden. Ebenso wenig ist endgültig klar, ob infizierte Kinder ohne Krankheitszeichen wirklich weniger Sars-CoV-2 ausscheiden als entsprechend asymptomatische Erwachsene. Die Ursache für geringere Infizierbarkeit könnte an Unterschieden bei den Zellrezeptoren für die Virusinfektion liegen, aber dies ist auch noch nicht bewiesen. Es scheint so zu sein, dass kleine Kinderzumindest keine große Rolle bei der Weiterverbreitung spielen.
Die Kultusminister haben Hygieneregeln für das neue Schuljahr aufgestellt. Im regulären Klassenverband könne auf den Mindestabstand zwischen Schülern und Lehrern verzichtet werden. Wie stehen Sie dazu?
Ich wäre angesichts unseres unvollständigen Wissens vorsichtig, zumindest soweit eine Maßnahme keine wesentliche Belastung darstellt, und würde daher den Mindestabstand erst sehr langsam aufgeben, wenn man die Zahlen der Neuinfektionen eine Zeit lang beobachtet hat.
Die Kinderimpfungen gegen Diphtherie, Tetanus und Keuchhusten sind wegen der Coronavirus-Pandemie deutlich zurückgegangen. Können die Folgen für die Kinder dadurch größer sein als von Covid-19 selbst?
Die Ständige Impfkommission (STIKO) und alle Experten weltweit halten dies tatsächlich für ein schwerwiegendes Problem, was leider auch alle Standardimpfungen für Kinder betrifft. Es ist wichtig, dass die Impfquoten bei Kindern (und auch Erwachsenen) mit den empfohlenen Standardimpfungen hoch bleiben (oder sogar noch besser werden). Eltern, die ihre Kinder in der ersten Hochzeit der Pandemie nicht haben impfen lassen wegen einer Furcht vor dem Arztbesuch, sollten die Impfungen unbedingt schnell nachholen lassen. Die Frage nach „größer“mag ich nicht beantworten, da mir dies zu spekulativ erscheint.